Moral muss nachhaltig sein

ASYLRECHT Wenn jetzt keine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen vereinbart wird, können langfristig wohl kaum noch Menschen kommen

Christian Rath

Foto: Rolf Zoellner

ist rechtspolitischer Korrespondent der taz. Seit 1995 ist er Mitglied der Justizpressekonferenz Karlsruhe, jüngste Veröffentlichung: „Der Schiedsrich­terstaat. Die Macht des Bundesverfassungsgerichts“ (Wagenbach, 2013).

Es ist jetzt vernünftig und geboten, über Obergrenzen für die Aufnahme von Flüchtlingen nachzudenken. Auch wer glaubt, dass Deutschland in der Lage ist, jährlich eine Million Flüchtlinge zu integrieren, kann nicht ausschließen, dass 2016 plötzlich 2,7 Millionen Menschen zu uns kommen – oder sogar 3,4 Millionen. Gute Gründe, die Heimat zu verlassen, gibt es in viel zu vielen Teilen der Welt. Und in sehr vielen Fällen sind die Gründe auch asylrelevant, können also zu einem Bleiberecht in Deutschland führen.

Zwar könnte man schon irgendwie die Lüneburger Heide, das Emsland und die Uckermark mit Zeltstädten und Containern füllen. Deutschland will schutzberechtigte Flüchtlinge aber nicht nur irgendwie verwalten und durchfüttern (wie dies global eher üblich ist), sondern integrieren, das heißt sprachlich, beruflich und sozial zum Bestandteil der Gesellschaft werden lassen. Und die so verstandene Aufnahmefähigkeit des Einwanderungslandes Deutschland ist natürlich niedriger als die rein organisatorische Nothilfe eines syrischen Nachbarlandes.

Das Grundgesetz steht solchen Obergrenzen nicht entgegen, auch wenn das von Merkel, Gabriel und Hofreiter immer wieder behauptet wird. Wer hier noch mit dem deutschen Asylgrundrecht argumentiert, hat vergessen, dass CDU/CSU und SPD dieses Grundrecht 1993 weitgehend abgeschafft haben. Es spielt heute faktisch keine Rolle mehr.

Europäisches Asylrecht

Relevant ist heute das europäische Asylrecht. Dieses ist einerseits großzügiger als das alte deutsche Grundrecht, weil das EU-Recht auch vor nichtstaatlicher Verfolgung und bei Bürgerkriegen schützt. Andererseits kann sich laut EU-Recht aber nicht jeder Flüchtling den Staat seiner Zuflucht aussuchen. Es gilt nämlich weiterhin die Dublin-Verordnung. Ihr zufolge ist das Asylverfahren in der Regel dort durchzuführen, wo der Flüchtling die EU betreten hat.

Deutschland pocht derzeit nicht allzu sehr auf die Dublin-Regeln, sondern macht weitgehend von seinem Selbsteintrittsrecht Gebrauch. Das heißt, die Bundesregierung schickt asylberechtigte Flüchtlinge nicht weg, obwohl sie das rechtlich könnte. Unter anderem mit dem Selbsteintrittsrecht kann die Bundesregierung durchaus steuern, wie viele der Flüchtlinge, die nach Europa kommen, dann tatsächlich von Deutschland aufgenommen werden. Rechtlich ist sowohl ein großzügiger als auch ein restriktiver Kurs möglich.

Kontingentlösungen, über die die Bundesregierung derzeit spricht, sind zunächst etwas anderes als Obergrenzen. Kontingente haben den Vorteil, dass Flüchtlinge von den Aufnahme­staaten direkt in konfliktnahen Flüchtlingslagern abgeholt werden. Es ist also keine lebensgefährliche Reise erforderlich und die Flüchtlinge können sich auch das Geld für Schlepper sparen. Kontingente könnten sich zudem auf die schutzbedürftigsten Flüchtlinge konzentrieren.

Lächerliche Kontingente

Problematisch ist aber, dass bei der demokratischen Bestimmung von Kontingenten meist lächerlich geringe Zahlen herauskommen, wie etwa in Großbritannien und den Vereinigten Staaten. Die USA will nur 10.000 syrische Flüchtlinge aufnehmen – so viele kommen nach Deutschland an einem Tag.

Dies spricht dafür, in Deutschland eher eine Obergrenze auszuhandeln, die von den derzeitigen Aufnahmezahlen ausgeht. Wenn heute eine Obergrenze bestimmt würde, könnte die SPD eine Million Flüchtlinge pro Jahr vorschlagen, die CSU will dagegen nur 500.000 Flüchtlinge akzeptieren, und Merkel würde am Ende den Kompromiss von jährlich 800.000 Flüchtlingen vermitteln. Das wäre eine Zahl, für die sich – verglichen mit den anderen demokratischen Staaten – niemand zu schämen bräuchte und die voriges Jahr noch jeder als unvorstellbar bezeichnet hätte.

Was aber passiert, wenn mehr als die vereinbarten 800.000 Flüchtlinge nach Deutschland kämen? Dann wären die anderen EU-Staaten mehr als heute in der Pflicht, sich stärker zu engagieren. Sie könnten sich dann nicht mehr darauf verlassen, dass die Bundesrepublik schon alle Bleibeberechtigten aufnehmen wird. Sollte sich auch unter diesen veränderten Rahmenbedingungen die europäische Solidarität nicht verbessern, müsste die EU an den Außengrenzen oder in Konfliktnähe Wartelager einrichten, die gut versorgt werden. Verboten ist laut Genfer Flüchtlingskonvention nur die Zurückschiebung in den Verfolgerstaat.

Eine so gestaltete Obergrenze wäre für Deutschland zugleich eine Selbstverpflichtung, dann tatsächlich so viele Flüchtlinge aufzunehmen. Derzeit ist die Bereitschaft noch da, 800.000 Menschen jährlich zu integrieren. Die Willkommenskultur und der Glaube an Merkels „Wir schaffen das“ hat vor allem gelitten, weil es keine Antwort auf die Frage gab, ob die Flüchtlingszahlen immer weiter steigen werden.

Eine Obergrenze wäre auch Verpflichtung, dann so viele Flüchtlinge bei uns aufzunehmen

Drohender Rechtsruck

Falls aber auf eine Obergrenze verzichtet wird und die Flüchtlingszahlen weiter steigen, wäre der gesellschaftliche Rechtsruck kaum aufzuhalten. Sollte die AfD bei Umfragen über 20 Prozent erzielen, dann wäre wohl auch auf Angela Merkel kein Verlass mehr. Vielleicht würde sie, wie 2011 in der Atompolitik, abrupt den Hebel umlegen, oder die CDU würde sie gleich durch einen zuverlässigen Rechtsausleger ersetzen. Die dann dekretierte Obergrenze würde jedenfalls viel niedriger liegen. Vielleicht würden dann nur noch 10.000 Christen aus dem Irak aufgenommen. Wer jetzt partout auf Obergrenzen verzichten will, sichert damit möglicherweise nur recht kurzfristig einen humanitären Vorteil.

Was bedeuten vor diesem Hintergrund die aktuellen Regierungsgespräche über die Anwendung von Kontingenten? Noch scheint es sich um tastende Vorgeplänkel zu handeln. Die SPD ist für Kontingente, um Obergrenzen zu verhindern. Die CSU sieht in Kontingenten nur ein anderes Wort für Obergrenze. Logisch muss sich das nicht ausschließen. Entscheidend ist, dass die Obergrenze (wie immer sie heißt) am Ende keinen Rückschritt bedeutet, sondern das deutsche Engagement auf einem hohen Niveau für alle Seiten verlässlich festschreibt.

Christian Rath