Bayerns Lokalpolitiker auf Berlin-Fahrt: Für Herrn Reiter ist das Maß voll

Münchens OB fuhr mit Kollegen nach Berlin. Ihre Region erstickt am eigenen Erfolg, sie fordern Geld für neue Infrastruktur. Mit mäßigem Erfolg.

Dieter Reiter stickt ein Faß auf dem Okotberfest an.

Der Münchner OB Dieter Reiter (SPD) sticht das erste Bierfaß des Oktoberfests 2015 an. Foto: dpa

MÜNCHEN/BERLIN taz | Ein eisiger Dienstagmorgen. Auf einem Bahnsteig im Süden Münchens wartet eine große Menge Fahrgäste. Der Lautsprecher schnarrt. „Die S-Bahn fällt aus. Im Weiteren kommt es zu erheblichen Verspätungen.“

Weichen zugefroren, Leitungen vereist? Wieder mal die Stammstrecke blockiert, auf der alle Linien in Münchens Zentrum zusammenlaufen? Jedenfalls geht nichts. Einer Frau steht die Panik ins Gesicht geschrieben. Sie muss zum Flughafen. Aber es gibt keine Schienenspange, die die Innenstadt umgeht, und auch immer noch keinen Flughafen-Express.

Wenig später steigt vor dem Münchner Rathaus Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) in einen doppelstöckigen Reisebus. Mit ihm eine Delegation aus Stadträten, Bürgermeistern und Landräten aus dem Münchner Umland, rund 50 Leute. Sie alle lassen an diesem Tag das Alltagsgeschäft ruhen, um denen „da oben“ in Berlin mal ordentlich Dampf zu machen. „Wir wollen mehr Geld für Straßen- und Schienenbauprojekte“, macht Reiter den Punkt klar, während der Bus auf der A 9 Tempo aufnimmt. „Dieses ständige S-Bahn-Chaos ist das beste Beispiel dafür.“

Er ärgert sich, dass es in Berlin immer heißt: „Ihr da unten im Süden seid doch so reich!“ Damit stehle sich der Bund aus der Verantwortung. „Unsere Steuereinnahmen und Millionengewinne, die die Münchner U- und S-Bahn machen, nimmt er ja auch gerne“, setzt er süffisant nach. Deswegen zuckelt er nun in dieser symbolträchtigen Aktion in die Bundeshauptstadt. Nach Berlin zu fliegen hätte nicht denselben Effekt gehabt.

Bezahlbaren Wohnraum gibt es in München und Umland kaum

Reiters Ziel: Am Abend will er bei einem parlamentarischen Abend bei Bundesverkehrsminister Alexander Dobrinth (CSU) und dessen bayerischen Kollegen, dem Innenminister Joachim Herrmann (CSU), der im Land auch fürs Bauen zuständig ist, für ein paar Projekte werben. So müsste die A 8 nach Salzburg, die Hauptschlagader Richtung Brenner, endlich ausgebaut werden. Eine der wichtigsten Bahntrassen Europas, die von Paris über München Richtung Osten führt, ist teilweise noch nicht mal elektrifiziert.

„Da kennen wir kein Rot oder Schwarz“

Reiters Leib- und Magenprojekt ist aber die zweite S-Bahn-Stammstrecke, nach der Münchner und Umlandbewohner schon seit Jahren lechzen. Deswegen gehe es bei dieser Fahrt auch nicht um Parteizugehörigkeit. „Da kennen wir kein Rot oder Schwarz“, pflichtet ihm Gabriele Bauer (CSU) bei, die als OB von Rosenheim mit zu dieser Fahrt geladen hat. „Jeden Tag pendeln 10.000 Berufstätige aus meiner Stadt nach München und wieder hinaus.“

Die „Metropolregion“ München ist der Wirtschaftsmotor Bayerns. Hier siedeln Global Player wie Linde, MAN, Krauss Maffei, EADS, BMW, Infineon, Siemens, Microsoft oder Adobe dicht an dicht. Banken und Versicherungen, Verlage und TV-Stationen haben hier ihren Sitz. Das Bruttoinlandsprodukt liegt 35 Prozent über dem Bundesdurchschnitt. Es herrscht fast Vollbeschäftigung. Und die Jobmaschine lockt immer mehr Menschen an.

Am Ende gehen die Kontrahenten aus­einander – grußlos und ohne Handschlag

Zugleich erstickt die Region an ihrem eigenen Erfolg. Bereits heute leben dort 5,7 Millionen Menschen. Bis 2032 soll noch einmal eine halbe Million hinzukommen. „Wie soll das funktionieren, wenn die Leute keine Wohnung finden und nur im Stau stehen?“, fragt Reiter.

In der oberen Etage fährt auch der Bürgermeister der Gemeinde Poing mit, das 20 Kilometer nordwestlich von München liegt. „Zu uns ziehen jedes Jahr 2.000 neue Bürger. Am S-Bahnhof drängen sich morgens die Leute bis fast an die Bahnsteigkante. Wir mussten schon die Bepflanzung zurückschneiden lassen, um Platz zu schaffen.“ Zum Beweis zeigt er ein Foto auf seinem Smartphone. Er würde sich eine kürzere Taktung mit mehr Zügen wünschen.

Genau das hat aber keinen Sinn, solange es in der Innenstadt keine Entlastung durch eine zweite Stammstrecke gibt. „Der MVV ist in 1970er Jahren für 250.000 Personen gebaut worden, jetzt schaufelt er jeden Tag das Dreifache durch die Stadt“, schildert Reiter die Problematik. „Die kleinste Störung und das ganze System liegt quasi lahm.“ Seit Jahren fordert die Stadt den Bau einer zweiten Tunnelröhre, die rund 3 Milliarden Euro kosten würde und von Bund, Freistaat und der Bahn bezahlt werden müsste.

150 Quadratmeter für 3.000 Euro Kaltmiete

Draußen laufen die fränkischen Hügel aus. OB Reiter packt die Schafkopfkarten aus und beginnt die Rosenheimerin und einen Landrat auszunehmen. „Aber nur um Pfennigbeträge!“, wie er betont. Zur Spielrunde gehört auch der Bürgermeister der Stadt Erding, Max Gotz. Das Thema kommt auf den bezahlbaren Wohnraum. Den gibt es in München und Umland kaum, weil der soziale Wohnungsbau seit 20 Jahren sträflich vernachlässigt wurde. Zugleich steigen in der „Boomtown“ die Mieten ins Fantastische.

Für eine 150 Quadratmeter große, zentrale, schicke Altbauwohnung kann man schon 3.000 Euro Kaltmiete abdrücken, für weniger repräsentative Wohnungen derselben Größe gute 2.000 Euro. „Wer soll sich das noch leisten? Bei uns finden ja scho Leit mit guadem, mittlerem Einkommen keine Wohnung mehr, des san ned nur die Krankenschwestern oder Mechatroniker“, schimpft Reiter.

Das Thema wird angesichts der Flüchtlinge gerade noch brisanter. Bundesbauministerin Barbara Hendricks hat beim Asylgipfel zwar deutlich mehr Mittel für den sozialen Wohnungsbau versprochen. „Nur: In der Stadt haben wir keine Flächen mehr, auf denen wir was bauen könnten“, erklärt das Stadtoberhaupt.

Aber da wäre doch das riesige Gelände des einstigen Fliegerhorsts von Erding, 40 Kilometer von München entfernt. In Flughafennähe könnten dort auf den 365 Hektar Tausende günstige Wohnungen entstehen. Der Knackpunkt: Ein Abkauf zum marktüblichen Preis ist ausgeschlossen. Selbst bei läppischen 100 Euro pro Quadratmeter würde der 365 Millionen Euro kosten. „Des kenna mir uns doch nicht leisten!“, ruft der Erdinger Bürgermeister Gotz und haut die Karten auf den Tisch.

Das Konzept, die Mandatsträger für sieben Stunden in einen Raum zu packen, geht auf. Sie tauschen Plätze, ratschen miteinander. Der OB lässt sich überall mal blicken. Endlich tauchen die Häuser Berlins auf. Einige Gäste gähnen, dabei kommt der wichtige Teil des Tages erst.

Konkrete Zahlen werden umschifft

Der Vortragssaal im Haus der Deutschen Wirtschaft ist rappelvoll. Eine Hundertschaft weiterer Vertreter der Münchner Umlandgemeinden ist zur Podiumsdiskussion gekommen, um heute „ihrem Reiter“ den Rücken zu stärken – obwohl gleich der FC Bayern spielen wird.

Da ist es eine Belohnung, dass mit Verkehrsminister Alexander Dobrindt (CSU) noch ein Stargast auftaucht, der eigentlich abgesagt hatte. Mitten in der Diskussion verkündet Joachim Herrmann, die Bayern hätten nach 20 Minuten das dritte Tor geschossen. Der Abend ist jedenfalls gerettet.

Reiter bringt noch mal alle seine Argumente vor. „Wenn der Bund will, dass München weiterhin Wirtschaftslokomotive ist, muss er mehr tun!“ Das zeitigt offenbar Wirkung. Applaus im Saal, als Dobrinth das Versprechen gibt, auf das die Geladenen am meisten gewartet haben: „Ja, wir unterstützen den Bau der Stammstrecke – ohne Wenn und Aber.“ Er meint: Egal wie teuer das wird. Und Herrmann verspricht: „Im kommenden Jahr werden die Verträge unterschrieben.“

Konkrete Zahlen aber werden umschifft. Ist das trotzdem der Durchbruch? Reiter ist optimistisch. „Eine so klare Aussage haben wir noch nie gekriegt.“ Im Foyer erschallt Blasmusik. Der Bürgermeister von Oberhaching spielt seine Tuba, der Landrat von Bad Tölz seine Klarinette. Es gibt Laugensemmeln und Weißbier für alle. Bayerisches Dahoam-Gefühl breitet sich aus.

Reiter und Gehb kreuzen die Klingen

Am nächsten Tag sieht die Welt weniger rosig aus. Beim Frühstück in der Landesvertretung Bayerns prallen die Vorstellungen von Kommunen und Bundesbehörde aufeinander. OB Reiter und Jürgen Gehb, Chef der Bundesanstalt für Immobilienaufgaben (Bima), kreuzen die Klingen. Die staunenden Gäste lassen den Kaffee in ihren Tassen kalt werden. Vom Überschreiben des Militärgeländes an die Stadt Erding, einer Entwicklung durch die Stadt und einer Rückzahlung in günstigen Raten will Gehb nichts wissen. „Bei den Verhandlungen wird mittlerweile gefeilscht wie auf dem orientalischen Basar.“

Das bringt Reiter auf die Palme: „Sie tun ja gerade so, als gehörten Ihnen die Flächen persönlich! Wenn die Bima aber Grundstücke nur zu Bestpreisen verkauft, kann man keine Genossenschaften gewinnen, die sich für den sozialen Wohnungsbau engagieren!“ Er beugt sich über den Tisch in Richtung seines Sparringpartners. „Was soll dann auf so einem Gelände entstehen, wenn es ausschließlich an private Investoren verkauft wird – Shoppingmalls, Luxuswohnungen?“

Da steigt dem Bima-Chef die Zornesröte ins Gesicht. „Ich bin von Rechts wegen verpflichtet, Höchstpreise zu erzielen. Wenn Sie eine Gesetzesänderung wollen, ist das Sache des Bundestags. Dann hätten Sie nicht mich zu so einem Frühstück einladen dürfen!“

Am Ende gehen die Kontrahenten auseinander – grußlos und ohne Handschlag. Vor dem Haus steht der wartende Bus. Deutlich leerer als auf der Hinfahrt. Viele der Kommunalpolitiker sind mit dem Flieger früher zurückgereist. Auch der OB fährt zum Flughafen. Seinen Teil der Mission hat er erfüllt, findet er: „Nun ist Berlin gefordert, den Worten auch Taten folgen zu lassen.“

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