Verführung zum Leben

Dieter Wellershoff ist ein bedeutender Erzähler, aber keiner der deutschen Großschriftsteller. Zu fremd sind ihm Genieposen. Zu wichtig seine Figuren. Ein Porträt

VON DIRK KNIPPHALS

Am Nachmittag des Tages, an dem ich mich zum ersten Mal fragte, ob ich einen Artikel über den Schriftsteller Dieter Wellershoff lieber mit einem Schuss oder mit einem Kuss beginnen lassen sollte, gab es eine seltsame Käferplage in dem polnischen Badeort Międzyzdroje. Schon am Morgen, als meine Kinder und ich zum Strand gingen, waren sie plötzlich da, kleine, schwarze Käfer, die träge durch die Luft torkelten und sich in die hellen Handtücher und T-Shirts setzten, die sie wahrscheinlich für Blumen hielten. Mit der Hand ließen sie sich leicht wieder wegstreichen, wobei aber einige von ihnen unweigerlich zermatscht wurden, was zu hässlichen Flecken in der Kleidung führte.

Später am Tag, auf dem Rückweg vom Strand, war dann alles voll von ihnen. Und als ich am frühen Abend auf dem schönen Balkon saß, um Wellershoff zu lesen und zwischendurch ab und an auf die Ostsee zu blicken (die Kinder blieben in dieser Stunde immer drin, Gameboy spielen oder Micky Maus lesen auf ihrem Doppelbett, das sie in unserem Apartment, dieser Zweizimmer-Ferienritterburg, als ihr Fürstentum besetzten), habe ich innerlich die Schwalben angefeuert, die direkt vor mir ihre Flugshow veranstalteten: Fangt sie euch, Jungs! Die Käfer hatten nämlich auch die Neigung, sich auf die Buchseiten zu setzen, was störte. Aber am nächsten Tag waren sie weg, und sie kamen während des ganzen Urlaubs nicht wieder. Das Einzige, was von ihnen geblieben ist, sind kleine, runde Flecken in einigen meiner Wellershoff-Bücher.

Ich habe die meisten Romane, Erzählungen, Essays und autobiografischen Schriften dieses Autors erst während des Urlaubs kennen gelernt. Wellershoff, das war ein Name, den ich vom Literaturstudium her kannte – kölnische Schule des Realismus, Lektor von Rolf Dieter Brinkmann, hat auch Drehbücher fürs Fernsehen geschrieben, das waren die Stichworte. Ansonsten gehörte er zur Kategorien der Autoren mit der Bezeichnung: sollte man eigentlich irgendwann einmal lesen. Was man aber leider nie tat. Es gab immer andere Namen, die heißer schienen.

Dann habe ich ihn bei einem privaten Abendessen kennen gelernt – einen auf freundliche Art distanziert wirkenden älteren Herrn mit großen Händen und höflichen Umgangsformen (kommende Woche, am 3. November, wird er achtzig Jahre alt). Um nicht ganz doof dazustehen, hatte ich zuvor zumindest den „Liebeswunsch“ gelesen, den späten, großen Erfolg unter Wellershoffs Büchern, einer der letzten noch vom „Literarischen Quartett“ produzierten Bestseller. Mehr noch als diese Geschichte von vier Menschen, die zwischenzeitlich die Hoffnung auf Glück hegen, um am Schluss aber jeder auf seine Art unglücklich und allein dazustehen, haben mich an dem Abend aber zwei Sätze oder sogar nur Halbsätze aufmerksam gemacht, die Dieter Wellershoff über das Schreiben gesagt hat.

Die erste Bemerkung fiel, als Herr und Frau R., die Gastgeber – wir waren noch beim Aperitif –, den Grund erwähnten, warum Dieter Wellershoff, der Kölner, gerade mit seiner Frau in Berlin war. Er hatte, das war Anfang Mai, einen Vortrag zum 60. Jahrestag des Kriegsendes zu halten, über seine eigenen Erfahrungen, die er noch als Frontsoldat machen musste. Da sagte Dieter Wellershoff, das Schreiben dieses Vortrags sei „nicht leicht“ für ihn gewesen. Zunächst kein großes Wort, aber bei Wellershoff schwang etwas mit. Aus flatternden Augen guckte er prüfend um sich, ob er nicht zu viel von sich verraten habe, und wiederholte noch einmal dieses: „nicht leicht“. Es gibt Schriftsteller, die können aus so etwas einen koketten Auftritt machen. Bei Wellershoff wirkte es anders. Er wirkte wie ein Mann, dem die Last vertraut ist, seine eigenen Erfahrungen wichtig zu nehmen und ihnen beim Schreiben gerecht werden zu wollen. „Die Arbeit des Lebens“ heißt eins seiner Bücher mit autobiografischen Schriften.

Die zweite Bemerkung folgte während des Essens. Und zwar machte sich Dieter Wellershoff sanft über das Buch eines Kollegen lustig mit den lächelnd gesprochen Worten: Das sei doch wohl ein Buch, das „nicht geschrieben werden musste“. Wieder so eine Bemerkung, die man übergehen, aber auch sehr wichtig nehmen kann. Wellershoff meinte damit, dass der andere Autor wohl keinen inneren Drang und keine absolute Notwendigkeit verspürt hatte, das Buch, um das es hier ging, zu schreiben, was er nur mit einem Kopfschütteln quittieren konnte, das so etwas besagte wie: Zeitverschwendung, sich damit zu beschäftigen. „Ein Buch muss geschrieben werden müssen“, rief Herr R. von seinem Platz an der Stirnseite des Tisches aus, „darunter macht Herr Wellershoff es nicht.“

In der Folge dieses Abends habe ich mir so ziemlich alles besorgt, was Dieter Wellershoff in Form von Büchern publiziert hat. Jetzt wollte ich es wissen, was hinter diesen Bemerkungen steckte. Waren sie nur dahingeworfenes Geplauder? Oder bildeten sie vielleicht sogar eine dicht gedrängte Quintessenz eines langen, fleißigen Schriftstellerlebens?

Als ich dann mit meinen Kindern nach Międzyzdroje fuhr, in diese Mischung aus altem deutschem Badeort, realsozialistischen Hinterlassenschaften und Elementen eines Erlebnisspaßbades für junge polnische Familien, nahm ich die Bücher mit. Sie waren es dann, die diese ansonsten geruhsamen Tage an der Ostsee mit Fritkis und Räucherfisch, kleinen Streitereien und großen Versöhnungen zu einer Art Abenteuerurlaub machten. Zwischen den Momenten, in denen ich aufs Meer blickte, die Schwalben bewunderte oder Käfer zerquetschte, las ich auf dem Balkon mit immer größer werdender Bewunderung.

Dieter Wellershoff beschreibt in seinen Büchern Lebensentwürfe und wie sie scheitern. In einer Stelle seiner überaus klaren und klugen Frankfurter Poetikvorlesungen (ich betone die Klarheit und Klugheit deshalb, weil es in dieser Vorlesungsreihe auch viele Beispiele absoluter Verschwurbeltheit gibt) hat er die „Lebensdesaster“ seines literarischen Personals Revue passieren lassen. Es geht hier um, so Wellershoff, „Selbstmörder, Mörder, Leute, die beruflich scheitern, Projektemacher, die in die Falle ihrer eigenen Fantasie gehen, andere, die stecken bleiben in einem falschen Leben“. Das hört sich alles furchtbar an und ist es auch. Dieter Wellershoff ist, was das Wort „Seelenkenner“, das oft in seinen Klappentexten vorkommt, viel zu betulich ausdrückt, ein Meister der Schilderung aller Spielarten menschlicher Grausamkeit.

Es ist ganz schön was los in diesen Büchern. Das geht vom Sexakt, der unvermittelt in einen Totschlag umschlägt (in „Die Schönheit des Schimpansen“), über die Szene mit den schlafenden Möwen, die der Aufsteiger Ulrich Vogtmann in „Der Sieger nimmt alles“ auf seiner morgendlichen Fahrt zu der Verabredung, die seine Karriere krönen soll, einfach mit seinem Auto überfährt, bis hin zur subtilen Gemeinheit, und sei es auch nur aus Unachtsamkeit, einem anderen Menschen gegenüber. Im „Liebeswunsch“ ist es etwa ein Polo, den der Richter seiner lebensuntüchtigen Frau schenkt, und hierin steckt schon sein ganzer Anteil an der Dynamik, die sie in den Tod treiben wird: das Kleinkarierte und Berechnende auch noch im großen Schenken, ein Golf hätte es doch schon sein können und, wer weiß, vielleicht hätte der Richter dann auch noch die innere Größe gehabt, aufmerksamer mit seiner Frau umzugehen.

Das ist der Aspekt, der einen dazu bringen kann, einen Artikel über diesen Erzähler mit einem Schuss anzufangen. Man meint die Granate, die den 19-jährigen Wellershoff im Oktober 1944 bei einem sinnlosen Gegenangriff auf die russischen Stellungen schwer verletzte (er hat das eindringlich im „Ernstfall“ beschrieben), in allen seinen Büchern noch pfeifen zu hören. Sie kann gleichsam ständig einschlagen, selbst noch (wie mehrmals in seinem gerade erschienenen Erzählband „Das normale Leben“) während eines ganz harmlosen Partygesprächs, eine Bemerkung genügt da manchmal, um eine ganze Ehe und damit ein ganzes Leben zu zerstören. Das Leben ist bei Dieter Wellershoff immer ein Spiel auf Leben und Tod. Aus seinem Kriegserlebnis zieht er, wie er mehrfach in seinen autobiografischen Texten betont, das Gefühl, nur durch Zufall überhaupt noch am Leben zu sein. In seinen Büchern inszeniert er immer wieder aufs Neue das zufällige Aufeinandertreffen von Umständen, die dann ins Unglück führen. Keine seiner Figuren kann sich des Erreichten je sicher sein, es gibt bei ihm immer Punkte, die ihre Liebe und sogar ihr Leben von innen her bedrohen. Wellershoff selbst hat das einmal als den „vulkanischen“ Gehalt seiner Bücher bezeichnet.

Aber das ist nur die eine Seite. Es gibt auch die Aspekte, die einen dazu bringen könnten, einen Artikel über Dieter Wellershoff unbedingt mit einem Kuss anfangen zu lassen, und das bezieht sich nicht nur auf die vielen amourösen Verwicklungen, die seine Romane und Erzählungen durchziehen (nur als Anspieltipp: Die Titelgeschichte in dem Erzählband „Der Körper und die Träume“ behandelt hübsch ironisch die Katastrophe, wenn alle sexuellen Wunschträume wahr zu werden drohen). Allerdings ist dieser zweite Aspekt nicht so leicht zu fassen. Sagen wir es so: Es gibt in seinen Büchern auch einen Sog der Verführung zum Leben hin, dazu, dieses Spiel auf Leben und Tod als Herausforderung und Abenteuer zu begreifen. So kann man – und als ich es auf meinem Balkon tat, durchzuckte mich ein beinahe epiphanisches Gefühl – bei ihm auf den Begriff der „Lebensverliebtheit“ stoßen. Er fällt ganz beiläufig gegen Ende des Buches „Blick auf einen fernen Berg“, in dem Wellershoff den Krebstod seines jüngeren Bruders beschreibt (sicher auch so ein Buch, das „nicht leicht“ zu bewerkstelligen war), anlässlich einer Beschreibung von Renoirs Bild „Ansteigender Wiesenpfad“. Wellershoff: „Vielleicht kein Meisterwerk der Malerei, aber dank seiner Natürlichkeit und Lebensverliebtheit ein Bild von großem Charme und für mich ein Flug- und Schweberaum zahlreicher schöner Erinnerungen.“

Erst mit diesem Begriff, als Gegenstück zum „Lebensdesaster“ seiner Figuren, ist der besondere Ansatz dieses Erzählers beschrieben, der sich zwischen Lebensverliebtheit und Lebensdesaster nie endgültig entscheiden mag. Neben der mahlenden Unerbittlichkeit, mit der Wellershoff seine Figuren in den Abgrund blicken lässt (und die beim Lesen dieses Schiffbruch-mit-Zuschauer-Gefühl aufkommen lässt), gibt es auch eine große Liebe zum Detail; wirklich zauberhaft kann Wellershoff sein literarisches Personal aus Kleidung, Sprachstil und kleinen Einzelheiten zusammenbauen – mindestens ebenso zauberhaft, wie er es dann auch immer wieder mit neuen Fallen und Herausforderungen konfrontieren kann. Und es gibt in diesem schriftstellerischen Werk eine große Lust, sich immer noch einen weiteren Lebensentwurf oder eine weitere Lebensmöglichkeit auszudenken, was seine Bücher vor Bitterkeit bewahrt.

Das mit dem Spiel auf Leben und Tod sagt übrigens Wellershoff selbst, am ausgeformtesten in seinen Frankfurter Poetikvorlesungen, wo er nach Ausführungen über den Tod der großen Erzählungen und die immer von neuen Zwängen und neuen Möglichkeiten tangierte Arbeit des Lebens formuliert (und damit Formulierungen aus seiner Rede zum Heinrich-Böll-Preis variiert): „Das ist eine Sicht des Lebens, die nicht mit festen Besitzständen und gebahnten Wegen rechnet und schon gar nicht mit existenzieller Geborgenheit in einem übergeordneten Sinn. Sie setzt vielmehr eine Welt voraus, die für sich da ist, fremd und undurchschaubar, in gleichgültiger Faktizität, und immer wieder durchwirkt vom Zufall, der jedem eine Hand voll blind gemischter Glücks- und Unglückskarten zuspielt mit der Aufforderung, ja Nötigung, daraus seine eigene Ordnung, sein persönliches Lebensmuster zu machen. Es ist ein Spiel auf Leben und Tod mit von Geburt an ungleichen Chancen, hochgradig illusionsanfällig und von selbstzerstörerischen Tendenzen bedroht, in dem Glück und Unglück, Gelingen und Scheitern dicht nebeneinander stehen, sich aber manchmal zu widersprüchlichen oder komplizierten und labilen Verbindungen wie dem Glück im Unglück oder dem Scheitern im Gelingen vermischen, ein Spiel, faszinierend durch seine Gefährlichkeit, das vom Zufall um den Preis oft schreiender Ungerechtigkeit vor seiner Erstarrung in Öde und Berechenbarkeit bewahrt wird.“

Ein Erzähler, den man dabei beobachten kann, wie er die Karten für seine Figuren immer wieder neu mischt, das ist Dieter Wellershoff. Ich habe mich seit diesem Sommer oft gefragt, warum ich nicht vorher auf ihn aufmerksam geworden bin. Sicher, der Zufall spielt auch hier eine Rolle, und alles lesen kann man halt leider nicht. Aber ich glaube, der Punkt ist noch ein anderer. Eher besteht er wohl darin, dass Dieter Wellershoff von seinem ganzen Habitus und intellektuellen Zuschnitt her so ziemlich das Gegenteil von einem deutschen Großschriftsteller abgibt.

Damit meine ich noch nicht einmal seine freundliche Distanziertheit in den Umgangsformen. Was ich meine, ist seine Klugheit und seine Lebenszugewandtheit in literarischen Dingen. Ich fürchte, ich fand andere Autorennamen nur deshalb heißer, weil ich mich über sie an der schweren deutschen Kunsttradition abarbeiten konnte, kraftmeierisches Auf-die-Kacke-Hauen und Weltverdammungsurteile inklusive. Beides ist mit Dieter Wellershoff aber nicht zu haben, und ich sehe es inzwischen so, dass ich, indem ich ihn überging, auf einen Restanteil Geniekult hereingefallen bin, den ich offensichtlich noch in mir habe. Dieser Autor jedenfalls ist wirklich weit weg von den Genieposen, die in Deutschland immer noch helfen, eine literarische Karriere zu befördern. Außerdem war für die ganz große Karriere hinderlich, dass er bei den Literaturinfragestellungskämpfen um 1968 nie mitgemacht hat; ansonsten hat ja jeder derzeit groß gehandelte Name wie Enzensberger, Walser oder Handke die Literatur eigentlich schon einmal abschaffen wollen.

Dass auch seine Klugheit der Anerkennung im Wege stand, die ihm eigentlich gebührt (noch immer ist er ohne Büchnerpreis), meine ich auch ganz wörtlich. Marcel Reich-Ranicki etwa findet immer, dass Intellektuelle im Grunde nicht erzählen können, und auch anderen Kritikern ist es ganz recht, wenn die Schriftsteller über sich selbst nicht so viel Bescheid wissen. Das lässt hübsch Raum für eigene Interpretationen. Wellershoff weiß dagegen immer sehr wohl, was er literarisch macht, diesen Eindruck bekommt man sofort, wenn man einen seiner selbstreflexiven Texte liest. Er hat seine Motive und seine literarischen Mittel sorgfältig durchgearbeitet. Es ist ein Märchen, dass das bei allen seinen Kollegen der Fall ist.

Nun würde man allerdings einen großen Fehler begehen, würde man seine Erzählungen und Romane nur als Umsetzungen, als Bebilderungen gleichsam seiner Sicht des Lebens begreifen. Ich neige sogar eher zu der Ansicht, dass es in diesem Schriftstellerleben genau andersherum gelaufen ist. Indem er seine Figuren ein ums andere Mal ins Scheitern schickte und dabei genau beobachtete, wie sie dabei vorgingen, konnte Wellershoff zuallererst seine abgeklärte, gleichsam die Abgründe, über die sie tanzt, kontrollierende Sicht auf das Leben gewinnen.

Wer will, kann vieles, was er geschrieben hat, inzwischen sogar auch historisch nehmen. Was ich, zumindest seitdem ich diese Romane und Erzählungen gelesen habe, nur noch mit einem Achselzucken quittiere, sind alle Versuche, die alte Bundesrepublik als, von 68 einmal abgesehen, etwas spießige, aber doch gemütliche Wärmestube zu beschreiben. Über die Spannungen und Risse dieser Zeit steht viel in Dieter Wellershoffs Aufsteigerroman „Der Sieger nimmt alles“, und dass es immer darum ging, die Gewalterfahrung der Nazizeit zu bearbeiten, das kann man jedem seiner Bücher entnehmen, auch wenn Nazis bei ihm gar nicht vorkommen. Es ist, so will es mir scheinen, sein Begriff des Lebens, dieses ganz alltägliche Abenteuer auf des Messers Schneide, mit dem Wellershoff auf seine frühen Erlebnisse antwortet.

Wenn man sich jedenfalls, wie ich es mit meiner nachholenden Lektüre auf dem Balkon über der Ostsee getan habe, dieses Werk als Ganzes ansieht, kann man schon erstaunt darüber sein, wie gründlich sich Wellershoff aus der totalitären und lebensfeindlichen Umgebung seiner noch von den Nazis geprägten Jugend herausgearbeitet hat. In seinem Soldatenbuch schildert Wellershoff den „anthropologischen Pessimismus“, der ihn im Zweiten Weltkrieg erfasste, er war überzeugt, in einer „brutalen, unheimlichen Welt zu leben, in der jede Gemeinheit und Inhumanität möglich war“. Mit so einer Vorgeschichte hätte er als Erzähler auch zu einem kalten Verhaltensforscher und Käferzerquetscher werden können, Ansätze dazu sind da, Gottfried Benn ist sein erster literarischer Hausgott.

Jedoch, und das kann man Schritt für Schritt in seinen Büchern verfolgen, er schraubt sich aus diesem Pessimismus schreibend heraus, indem er das Spiel auf Leben und Tod in seinen Romanen und Erzählungen in immer subtilere Ausgangssituationen übersetzt und weiterverfolgt und indem er sich in seinen autobiografischen Schriften sorgfältig Rechenschaft über die Erfahrungen seines Lebens gibt, auch wenn dies „nicht leicht“ ist. So hellt er seinen Lebensbegriff sozusagen von innen her allmählich auf. Und in seiner schon erwähnten Böll-Rede heißt es dann: „Wenn ich inmitten fremder Menschen durch die Stadt gehe, denke ich oft, dass sie alle Mitspieler in dem großen Experiment ‚Leben‘ sind. Jeder ein neuer, unwiederholbarer Versuch, zurechtzukommen mit den Umständen und Bedingungen, in denen er sich vorfindet.“ Weiter kann man sich von der Totschlägerreihe seiner frühen Jahre nicht entfernen.

Auch das Nachvollziehen dieser Entwicklung war ein Teil des Leseabenteuers dieses Urlaubs, zum einen weil sie während der vergangenen sechzig Jahren vielen Menschen, meinem Vater zum Beispiel, nicht so gut gelungen ist; da schwingt dann beim Lesen immer viel Privates mit. Zum anderen, weil mich auf meinem Balkon – inmitten von Schwalben, Käfern und entferntem Urlaubslärm, mit zwei Kindern in der Wohnung hinter mir und mit Büchern in den Händen, durch die ich mit den Erfahrungen der vorangegangen Generation kommunizieren konnte – bei solchen Textstellen oft ein kleiner euphorischer Taumel erfasst hat.

Vielleicht kam die Lektüre gerade zur rechten Zeit. Mit Anfang vierzig bin ich offensichtlich bereit für die fast ja schon mythische Erfahrung, mich als kleines Experiment in dem großen Experiment des Leben zu fühlen. Aber bevor ich hier ganz in Lebensverliebtheit verfalle, breche ich lieber ab. Sagen möchte ich nur noch, dass ich zwar nicht recht weiß, ob wirklich jede Erzählung und jeder Roman von Dieter Wellershoff geschrieben werden „musste“. Aber die Erfahrung des Lebens, die hinter ihnen steht, „musste“, das ist sicher, beschrieben werden.

Dieter Wellershoff hat es getan und tut es noch.

DIRK KNIPPHALS, 42, ist Ressortleiter der taz-Kulturseiten. Dieter Wellershoffs Bücher sind beim Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen: „Der Liebeswunsch“. 2000, 400 S., 21,90 Euro „Blick auf einen fernen Berg“. 1991, 208 Seiten, 19,59 Euro „Der Sieger nimmt alles“. 1983, 514 Seiten (bei btb erhältlich)