Deutsch-chilenischer Liebesroman: Die Welt ist in Aufruhr

Linksploitation bei Sascha Reh: Studentenrevolten, Revolutionsromantik und Computerexperimente unter Allende – bunt und spannend erzählt.

Mitglieder der Regierung Allende werden nach seinem Sturz von Soldaten festgenommen.

Mitglieder der Regierung Allende werden nach seinem Sturz von Soldaten festgenommen. Foto: reuters

Es ist der 11. September. Zwei Flugzeuge … Nein, eben nicht. In diesem Roman spielt ein anderer 11. September die entscheidende Rolle: der Putsch gegen Allende, die Inthronisierung Pinochets, das Ende des freien Chile für die nächsten Jahrzehnte.

Man schreibt das Jahr 1973, aber Sascha Reh (geboren 1974 in Duisburg, mittlerweile Wahl-Berliner) unternimmt in seinem dritten Roman, „Gegen die Zeit“, gleich mehrere Zeitsprünge. Die Haupthandlung setzt bereits 1970 ein, der junge Protagonist und Ich-Erzähler Hans „Juan“ Everding schlägt in Santiago auf, um an der Uni Vorträge über Industriedesign zu halten, wird aber dann für ein Computerexperiment rekrutiert, das mittels „Cybernet“ versuchen soll, die chilenische Wirtschaft zu automatisieren und den umgreifenden und von der Gegenseite geförderten Mangel zu bekämpfen.

Zwischengeschnitten sind Rückblicke ins Elternhaus, in die Studentenzeit, in die Zeit der Politisierung um 1968, die auch Everding in Frankfurt am Main zu den Steinen greifen lässt. Reh hat, das kann man vielleicht so sagen, einen historischen Roman geschrieben, der mehr oder weniger unterschwellig viel Revolutionsromantik transportiert. „Gegen die Zeit“ ist eine Art Linksploitation-Roman geworden, der Zeitkolorit beschreibt, aber auch Analogien zur Gegenwart bereithält: Die Welt ist in Aufruhr, die Finanzkrise ist vielleicht gerade überwunden, nicht nur in Südamerika, sondern auch in Europa gibt es wieder hoffnungsvolle und mächtiger werdende Linksbewegungen (Griechenland, Portugal, Spanien). Und es gibt die digitale Revolution, die unser Leben auf binäre Zahlen hin fortlaufend umcodiert.

Im eh schon sehr dialoglastigen Roman wird also eine Menge Politsprech gedroschen, aber mit gegebener Vorsicht und gut in den Zeitfolgen verankert. Es gibt trotzdem einiges, was einem Spanisch vorkommt (chilenisches Spanisch, in dem Fall). Fidel Castro tritt auf. Es gibt einen zwielichtigen Stasi-Agenten, der im Computerexperiment auf eigene Faust unterwegs ist und den westdeutschen Everding am Ende doch noch zur Seite steht. Auch tritt eine lustige Konterrevolutionsfigur namens „Comandante Brauer“ auf, ein Militär mit deutschem Hintergrund, der ein altertümliches, seltsam anglifiziertes Deutsch spricht.

Liebesgeschichte zu dritt

Und natürlich gibt es eine deutsch-chilenische Liebesgeschichte, die zwischen der üblichen Romantik, der zeitgemäßen Abgebrühtheit (die Monogamie als Geißel der Bourgeoisie und so, dementsprechend eine Dreieckskonstellation) und einer harten Geschichte um Verrat und Folter pendelt.

Hätte Allendes ­Sozialismusprojekt mit dieser Elektronik funktioniert?

Eine große Referenz zu all dem ist Roberto Bolaño. Der 2003 gestorbene große Autor war selbst ein (wenn auch als solcher unbedeutender) chilenischer Revolutionär, der unmittelbar während des Putsches gefangen und gefoltert wurde. Darüber lässt sich im Werk Bolaños so einiges finden. Das Erstaunliche an Sascha Rehs Roman ist: Zwar werden auch hier die Namen Borges und García Márquez gedroppt, aber „Gegen die Zeit“ ist alles andere als magischer Realismus.

Für die Abgründe der Gewalt, für das Surreale der Empfindungen, für die Tragik des Politischen interessiert sich der Roman nur auf der primären Ebene. Heißt, Reh ordnet fast alles dem Plot unter. Was Vorteile hat – so entkommt er den Referenzen, muss sich nicht als Bolaño-Abklatsch beschimpfen lassen. So kann er die Erzählgeschwindigkeit hoch halten, die Handlung vorantreiben.

Die Riesenspulen der Tonbandgeräte

Gut recherchiert ist das natürlich. Ob es Reh dabei um Authentizität geht, sei mal dahingestellt. Die Cybernet-Experimente hat es damals zwar tatsächlich gegeben, und Reh selbst führt in seinem Nachwort allerlei Originalquellen und Zeitzeugen auf. Das Modell ist auch durch Rehs Zeitfilter gesehen spannend, vor dem geistigen Auge hat man aber stets die Riesenspulen der ominösen Tonbandgeräte, die man aus dieser Zeit noch kennt: vorsintflutliche Elektronik. Hätte Allendes Sozialismusprojekt damit funktioniert? Auch auf Dauer? Die Frage beantwortet sich (leider) nicht.

„Gegen die Zeit“ ist schnell erzählt. Schnell und irgendwie einfach. Es gibt ein paar schöne Sätze, aber im Wesentlichen ist Rehs Stil schnörkellos und geradeaus. Es soll vorangehen. So manche Formulierung würde einer historischen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten. Gab es zum Beispiel damals schon ein deutsches „Guinness-Buch der Rekorde“, und selbst wenn, hat man es schon so selbstverständlich als Referenz gebraucht? Ähnliche Einwände ließen sich auch bei anderen umgangssprachlichen Formulierungen machen.

Sascha Reh: „Gegen die Zeit“. Schöffling & Co, Frankfurt/Main 2015, 360 Seiten, 21,95 Euro

Vergleichbar ist die Reh’sche Verfahrensweise vielleicht mit Leander Scholzens RAF-Roman „Rosenfest“ oder Uli Edels Ansatz, Stefan Austs Bericht „Der Baader Meinhof Komplex“ zu verfilmen. Tolle Bilder, schnell geschnitten, alles, auch das Politische, aufs Griffigste heruntergebrochen. Bunt, grell, revolutionär, spannend. Linksploitation.

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