Tschüß, alter Knabe

Nun hat auch die Kinderschokolade ihren Relaunch: Nach mehr als dreißig Jahren strahlt ein neues Gesicht auf der Verpackung. Toll! Aber was will uns Ferrero mit dieser Kulturrevolution bloß sagen?

VON REINHARD KRAUSE

Der Schock lauert im Süßigkeitenregal. Eine Epoche geht dieser Tage zu Ende, und nichts wird mehr so sein, wie es war. Mehr als dreißig Jahre lang hat Ferrero nun seine Kinderschokolade mit dem Konterfei eines irgendwie streberhaft aussehenden Knaben verkauft. Und nun soll plötzlich Schluss sein damit. Was einem da aus dem Regal entgegengrinst, ist ein fremdes Kind. Eins, das nicht zu uns gehört.

Nun gut, sonderlich sympathisch ist einem das bisherige Kinderschokoladenkind eigentlich nie gewesen. Im Grunde sah es aus, als wäre es einem B-Picture entsprungen, in dem Achtjährige durch extraterrestrischen Strahlen (oder gar durch den Genuss dieser besonders milchhaltigen Schokolade?) zu strahlend weißzähnigen Einserschülern mutieren und die Welt mit ihrer ferngesteuerten Artigkeit in Angst und Schrecken versetzen. Oder wie der Peter aus einem x-beliebigen Heinz-Rühmann-Film der Fünfzigerjahre.

Doch wie auch immer: Irgendwann hatten wir uns an dieses aufdringlich brave Kindergesicht gewöhnt und es am Ende nicht nur hin- sondern regelrecht angenommen, wie das dralle glückliche Mädchen vom Brandt-Zwieback. Das SZ-Magazin schrieb jüngst sogar, das Kinderschokoladenkind mit dem übertriebenen Lächeln zähle „inzwischen zu den bekanntesten Porträts der Popkultur“. So eine Art deutsche Campbell-Dose. Und nun sollen wir Kunden weltweit uns plötzlich an ein neues Kinderschokoladengesicht gewöhnen? Wieso denn bloß?

Nur drei Wochen ist es her, da erschien ein Buch von einem gewissen Günter Euringer, 42, der behauptete, er sei das Kind von der Kinderschokoladenpackung. Schlappe dreihundert Mark habe er damals für seine Modeldienste bekommen und als Zusatzdank für die milliardenfache Reproduktion seines Kindergesichts nicht einmal eine Probepackung jener bewussten Schokolade erhalten. Kaum hat sich Euringer nach über dreißigjährigem Schweigen geoutet, soll auch schon wieder Schluss sein mit seinem nachgeholten Kinderruhm. Zufall oder nicht?

Im Grunde ist es völlig gleichgültig, ob sich nun Ferrero von seinem Kinderstar trennt, weil der plötzlich aus dem Nähkästchen plaudert, oder ob Euringer endlich, kurz bevor sein Konterfei dem Vergessen anheim gegeben wird, mit seinem Buch doch noch schnell ein paar Euro mit seiner Geschichte machen wollte. Was schmerzt, ist der Abschied von einer Markenikone. Muss die Generation Golf, stets auf der Suche nach den Madeleines der eigenen Kindheit, nun mit neuen Romanen gegen den Verlust anschreiben?

Aber seien wir ehrlich: Ein bisschen pfiffiger sieht der neue Knabe ja aus, ein bisschen sportlicher auch. Peter heißt jetzt vermutlich Kevin. War das Kinderschokoladenkind bisher auf Klassenprimus gebürstet, gehört der Nachfolger zum Stamme Mädchenschwarm. Dazu passt, dass seine Nase deutlich schmaler geraten ist als die seines Vorgängers. Und das Haar erst! Wirkte es bisher total strohig und lud keinesfalls dazu ein, neckend darüber zu fahren, ist es heute nicht nur gegelt, sondern auch strähnchenblondiert. Cool, man! Ferrero zeigt uns den Mann im Kind. In TV-Spots bemüht sich der Schoko-Konzern schon seit vielen Jahren, die etablierte Schokolade von ihrem expliziten Kinderimage zu befreien und vor allem Twens als Käufer zu gewinnen. Ob das mit dem hippen Knaben besser funktioniert?

Wohl wahr: Wir leben nicht mehr in den harmlosen, wohl sortierten Siebzigern. Selbst die Milchwellen auf der neuen Verpackung schwappen in unseren Tsunami-Zeiten nicht mehr ganz so bedächtig wie früher.

Über allem inneren Aufruhr angesichts des neuen Werbegesichts könnte indes eine Neuerung glatt untergehen: Die Kinderschokolade gibt es neuerdings nicht mehr nur in der traditionellen, schnell mal eben weggeputzten 100-Gramm-Packung, sondern auch in einer 300-Gramm-Jumbobox. Musste sich der artige Peter die Standardpackung noch mit seinen beiden Geschwistern teilen, kann Kevin (ganz bestimmt ein Einzelkind) heute richtig in die Vollen gehen. Die alte Packung war irgendwann einfach auf – bei der neuen Größe muss sich erst noch herausstellen, ob Kinder die Willenskraft aufbringen können, schon vor dem vierundzwanzigsten Riegel mit dem Schlickern aufzuhören. Ein Trost für die Erziehungsberechtigten: Nach dem Genuss von 300 Gramm Kinderschokolade ist der komplette Vitaminbedarf für einen ganzen Tag gedeckt. Jaja, viel Milch, wenig Kakao.

Nun denn, eine Ära geht unweigerlich zu Ende. Kinder, bereitet eure Eltern schonend darauf vor!