Wenn das Gespräch längst gescheitert ist

DOKUMENTARFILM „Neukölln Aktiv“ porträtiert die gleichnamige Maßnahme der Arbeitsagentur für junge Männer ohne Schulabschluss

Das System macht es keinem der an ihm Beteiligten leicht, hat aber selber einen langen Atem

VON LUKAS FOERSTER

Die Hilflosigkeit im Angesicht eines nichtselbstbestimmten Lebens drängt im Film immer wieder zum sprachlichen Ausdruck: „Wenn sie sagt, ich muss es machen – ich kann ja nicht Nein sagen –, dann mache ich es. Was soll ich machen?“, fragt ein junger Mann im Gespräch mit der Sozialarbeiterin Gülay Sastimdur. Die ist (ein sehr zentraler) Teil von „Neukölln Aktiv“, einer „Aktivierungsmaßnahme“ der Arbeitsagentur Neukölln, die für junge Männer ohne Schulabschluss und Ausbildung offensteht. „Neukölln Aktiv“ vermittelt auch Praktika und gelegentlich sogar Ausbildungsplätze, primäres Ziel jedoch ist der Hauptschulabschluss. Es wird zwar auch Unterricht angeboten, in Mathematik und Englisch zum Beispiel, aber oft sind die Betreuer schon zufrieden, wenn ein ordentliches Tischtennisspiel zustande kommt – oder wenn ihre Schützlinge überhaupt auftauchen.

Wer bei „Neukölln Aktiv“ angekommen ist, hat bereits einen Behördenmarathon hinter sich. „Danach kommt nicht mehr viel“, sagt eine Mitarbeiterin der Arbeitsagentur einmal im Film. Was aber auch heißt: Irgendetwas kommt eben doch noch, das System macht es keinem der an ihm Beteiligten leicht, hat aber selber einen langen Atem. Alle Beteiligten sind Teil derselben Abhängigkeitsökonomie, in deren Mittelpunkt die Arbeitsagentur steht. Diese vermittelt nicht nur die Teilnehmer – im schlimmen Behördenneudeutsch: die Kundschaft – und finanziert die ständig von ihrer Einstellung bedrohte Einrichtung, sie stellt auch einen großen Teil des Personals: Nur zwei gelernte Sozialarbeiter beschäftigt „Neukölln Aktiv“, die übrigen Mitarbeiter sind Langzeitarbeitslose.

Der nach dem Projekt benannte Dokumentarfilm von Sabine Herpich und Gregor Stadlober ist im Stil der Institutionenporträts des großen amerikanischen Dokumentaristen Frederic Wiseman gehalten: keine klassischen Interviews, keine offensichtlichen Eingriffe der Filmemacher ins Geschehen, dafür zurückgenommene, beobachtende, oft sehr lange Einstellungen, die den Arbeitsalltag in möglichst vielfältigen Facetten einfangen: Gruppendiskussionen, Unterricht, Teambesprechungen, interbehördlicher Austausch, einmal auch ein Inline-Skates-Ausflug zum Tempelhofer Park – für einen Moment öffnet sich der Blick, die jungen Männer rollen dem weiten Horizont entgegen. Dass der Film nicht immer leicht anzuschauen ist, liegt nicht nur am Eindruck weitgehender Perspektivlosigkeit, sondern auch an der formalen Insistenz: daran, dass die Kamera stur weiterläuft, wenn das Gespräch längst gescheitert ist. Und selbst einen sich ewig im Kreis drehenden Streit um die Handy-Abgabe-Pflicht minutenlang, ohne Erbarmen für die entnervte Sozialarbeiterin, mitfilmt.

Vielleicht hat die gefühlte Härte auch damit zu tun, dass der Film Personalisierung vermeidet. Andere Filme würden das Thema narrativieren, entlang einzelner Figuren und Lebenslinien aufarbeiten, die durch die Institution hindurchführen und sie mit jeweils unterschiedlichen Perspektiven wieder verlassen. In „Neukölln Aktiv“ gibt es kein Außen der (selbst prekären) Institution, auch kein Außen der Sprachregelungen, die innerhalb der Institution gelten. Man lernt nichts über Vorgeschichte, kaum etwas über den privaten Hintergrund der jungen Männer, zum Helden eines Bildungsromans taugt sowieso kein einziger. Auch nicht zum Antihelden allerdings: Aller vermittelter Behördenfrustration zum Trotz akkumulieren sich die vielen kleinen Niederlagen nicht zum allumfassenden Zynismus, sondern werden aufgehoben in einem problemorientierten Pragmatismus.

Der Film diskreditiert die Institution nicht; die Frage aber, was unter den Bedingungen der „sonstigen weiteren Maßnahmen“ – so firmieren Projekte wie „Neukölln Aktiv“ im Sozialgesetzbuch – vom Individuum bleibt, lassen die Filmemacher, durchaus absichtsvoll, offen.

■ „Neukölln Aktiv“ läuft am 15. Januar um 20.30 Uhr an der Volksbühne, anschl. Premierenparty