Gemälde Das „Schwarze Quadrat“ ist längst nicht mehr schwarz.Neues über eine Kunst-Revolution, die hundert Jahre alt wird
: Quadratisch. Rissig. Gut

Spontaner Anfall von Genialität? Mitnichten. Das Original im gegenwärtigen Zustand Foto: Tretjakow-Galerie

von Sonja Vogel

Für ein Gemälde sind hundert Jahre keine Zeit, eigentlich. Dem „Schwarzen Quadrat“ von Kasimir Malewitsch aber, einem der bekanntesten Gemälde der Welt, sieht man sein Alter an. Es ist nicht nur ergraut. Unzählige Risse sind schon aus einiger Entfernung mit bloßem Auge erkennbar, den schwarzen Farbpanzer haben sie längst gesprengt. Darunter schimmern Farben. Rot. Blau. Gelb. Schaut man es lange genug an, an seinem Säulenplatz in der Staatlichen Tretjakow-Galerie in Moskau, bekommt man den Eindruck von Dreidimensionalität, einer Landschaft, die sich jahrzehntelang durch den Panzer gefressen hat.

Es fällt schwer, sich vorzustellen, wie das Quadrat die Menschen schockierte, damals, als es am 19. Dezember 1915 (vorrevolutionärer Kalender) ausgestellt wurde, in der futuristischen Ausstellung „0,10“ in St. Petersburg. Eine samtene tiefschwarze Fläche auf weißem Grund, die dem Auge nichts gab, woran es sich hätte festhalten können. Nichts, was man damit hätte verbinden können. Dieses Nichts war das Revolu­tionäre des „Schwarzen Quadrats“ – es hatte mit allem gebrochen, wofür die Malerei bis dahin stand.

Die Kritik war zunächst vernichtend, die Zeitungen schrieben vom „toten Quadrat“, vom „personifizierten Nichts“. Zwischen den Werken der 14 KünstlerInnen, darunter Olga Rosanowa und Wladimir Tatlin, war das „Schwarze Quadrat“ aber auch der unbestrittene Star der Ausstellung. Man hängte es in den Ikonenwinkel, der in orthodoxen Haushalten den Heiligenbildern vorbehalten ist. Schon das war eine Provokation.

Aber nicht nur die Öffentlichkeit war erschüttert – auch Malewitsch selbst war es. Glaubt man seinen Aufzeichnungen, hat er nach Fertigstellung eine Woche weder schlafen noch essen oder trinken können. Mit 37 Jahren hatte er nach einer neo-primitivistischen und kubofuturistischen Phase einen neuen künstlerischen Ausdruck gefunden: den Suprematismus. Malewitsch verstand darunter die Suprematie der reinen Empfindung in der bildenden Kunst. Das Quadrat stand für die Empfindung, der weiße Grund für das Nichts jenseits dessen.

Das „Schwarze Quadrat“ markiert den Durchbruch der gegenstandslosen Kunst. Es dauerte jedoch noch etwas, bis dieser sich international durchsetzte. Zunächst war die Wahrnehmung verstellt durch den Ersten Weltkrieg, zu dem auch Malewitsch 1916 in eine Schreibstube der zaristischen Armee einberufen wurde.

Alles, was wir liebten

Die Euphorie der Oktoberrevolution beflügelte dann 1917 die KünstlerInnen, alles schien möglich – vieles wurde auch umgesetzt. Im Jahr 1927 erklärte Malewitsch den Ansatz so: „Als ich im Jahr 1913 in meinem verzweifelten Bestreben, die Kunst von dem Ballast des Gegenständlichen zu befreien, zu der Form des Quadrats flüchtete und ein Bild, das nichts als ein schwarzes Quadrat auf weißem Felde darstellte, ausstellte, seufzte die Kritik und mit ihr die Gesellschaft: Alles, was wir geliebt haben, ist verloren gegangen: Wir sind in einer Wüste. Vor uns steht ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund!“

„Die Revolution, die Malewitsch in der Kunst vollbracht hat, ist vergleichbar mit der Relativitätstheorie Einsteins in der Physik“, sagt Selfira Tregulowa. Die neue Direktorin der Tretjakow-Galerie sitzt in der Direktion und blättert durch Fotografien starker Vergrößerungen des Gemäldes.

Wie die Relativitätstheorie. Selfira Tregulowa Foto: Evgeny Alekseev GTG

Bereits in den ersten Monaten ihrer Dienstzeit hat sie einen Coup gelandet. Im November stellte sie die Ergebnisse einer Untersuchung des „Schwarzen Quadrates“ vor. Eigentlich nichts Besonderes, das Gemälde wird ständig untersucht. Doch neue Infrarottechnik und eine starke Vergrößerung brachten nun fundamental neue Erkenntnisse. Gleich zwei Farbgemälde entdeckten die Forscher unter dem Quadrat. Eine kubofuturistische und eine protosuprematistische Komposition. „Wir ahnten schon lange, dass dahinter ein anderes Gemälde liegt“, sagt Tregulowa. Mit zweien hatte niemand gerechnet.

Das war noch nicht alles. Am unteren Rand konnte man einen Schriftzug entziffern, der zuvor für die Signatur des Künstlers gehalten worden war, fälschlicherweise. „Die Beschriftung lautet sinngemäß ‚Kampf von Schwarzen bei Nacht‘“, sagt Tregulowa. „Da war eine Sensation, mit der niemand gerechnet hat.“ Von „bei Nacht“, im Russischen ein Wort, sei nur der letzte Buchstabe zu erkennen, aber anhand der Buchstabenzahl lässt sich das Wort erahnen.

Die Inschrift ist eine Anspielung auf ein Bild des französischen Künstlers und Komikers Alphonse Allains von 1897, das als erstes monochromes Gemälde überhaupt gilt. Auf dem schwarzen Rechteck unter dem Titel „Kampf von Schwarzen in einem Keller, bei Nacht“ ist nur das Augenweiß zu sehen. Dieser rassistische Witz war zu jener Zeit populär, das Bild bekannt, auch Malewitsch. „Wir wissen von einer Performance in der Moskauer Kunstschule im Jahr 1911, die sich auf Allains Gemälde bezog“, sagt Tregulowa. Malewitsch hat sie gesehen.

Was aber wollte er mit der Inschrift bezwecken? Und warum gab er sich so große Mühe, sie unkenntlich zu machen? Die Direktorin liest die Beschriftung als ironischen Kommentar. „Er hatte dieses unglaubliche schwarze Nichts erschaffen, und vielleicht hat er das Bedürfnis gehabt, sich mit ein bisschen Ironie, mit der Referenz auf das Bild von Allains zu erleichtern“, mutmaßt Tregulowa.

Malewitsch hatte also ein Vorbild für sein Quadrat. Ändert das nun seinen revolutionären Einfluss? Wohl kaum. Man braucht sich nur Werke von expressionistischen NachkriegskünstlerInnen wie Agnes Martin oder Ellsworth Kelly anzuschauen, um zu verstehen, wie Malewitsch die moderne Kunst prägte. „Ohne das ‚Schwarze Quadrat‘ hätte es diese Kunst nie gegeben“, sagt auch Tregulowa.

Die Entdeckungen verändern jedoch die bisher gültige Interpretation des Meisterwerks. Die Vorstellung, Malewitsch habe das Quadrat in einem spontanen Anfall von Genialität gemalt, ist nur noch Legende. „Die Untersuchungen zeigen, dass das Bild in einem langen Prozess entstanden ist“, sagt Tregulowa. „Wir sehen das als Beweis dafür, dass das ‚Schwarze Quadrat‘ von 1915 das erste suprematistische Gemälde überhaupt ist.“ Bisher war die Frage: War das Gemälde ein Resultat des Suprematismus oder dessen Ausgangspunkt?

Malewitsch hatte ein Vorbild fürs Quadrat. Ändert das seinen revolutionären Einfluss? Wohl kaum

Systematische Legenden

Die beiden tieferen Ebenen des Gemäldes erklären zum Teil auch dessen schlechten Zustand. „Malewitsch hat so leidenschaftlich gemalt, dass er die Farbschichten nicht trocknen ließ.“ Der Maler selbst fertigte schon 1929 eine Kopie an und versuchte parallel, das Original zu restaurieren, das sich bereits 14 Jahre nach seiner Entstehung in schlechtem Zustand befand. Mit wenig Erfolg, wie man heute sehen kann. Die Kopie hängt heute im Staatlichen Russischen Museum in St. Petersburg – geht das „Schwarze Quadrat“ auf Reisen, so ist es diese zweite Version, nie das Moskauer Original.

Die neue Technik überführte nicht zuletzt auch den Künstler selbst der systematischen Legendenbildung. Dass das schwarze Quadrat erstmals in der legendären futuristischen Oper „Sieg über die Sonne“ auftauchte, für die Malewitsch 1913 das Bühnenbild entwarf, kann man überall nachlesen. Einziger Zeuge dafür ist allerdings Malewitsch selbst – er hatte Jahre später einen Brief an den Komponisten Michail Matjuschin geschrieben, in dem er eine Zeichnung des Quadrats beifügte. Er habe sie unter den Opernskizzen gefunden. Tatsächlich aber stammt die Zeichnung von 1915. Schon lange ist bekannt, dass Malewitsch gern falsche Spuren durch sein Werk legte. In seinen späten Jahren etwa malte er wieder Porträts – und datierte sie auf vorsuprematistische Zeit zurück.

An der Legende bastelt nun auch die Tretjakow-Galerie. Denn selbstverständlich ist es kein Zufall, dass die neue In­frarottechnik gerade jetzt, pünktlich zum Jahrestag und der Sonderausstellung „Die Spur von Malewitsch“, solch neue Erkenntnisse zutage gefördert hat. Den Maler selbst hätte diese Inszenierung just in time ganz sicher gefreut.