Splitter der Realität

SPOKEN WORD „Nothing Here Now but the Recordings“: Aufnahmen mit Cut-up-Experimenten des US-Schriftstellers William S. Burroughs wurden wiederveröffentlicht

Die menschgewordene Antithese zum bürgerlichen Lebensstil: der Schriftsteller William S. Burroughs Foto: ap

VON Philipp Rhensius

Manche Künstler sind ihrer Zeit voraus. Besonders dann, wenn sie Dinge sichtbar machen, die die meisten Menschen nicht wahrnehmen – oder ignorieren. Der US-Schriftsteller William S. Burroughs (1914–1997) etwa wurde zwar schon zeit seines Lebens berühmt, doch galt er wegen seiner radikalen Ideen stets als verschroben, wenn nicht sogar verrückt.

Die bigotte US-Gesellschaft der 50er Jahre war noch nicht bereit für den queeren Autor, der sich so freizügig und selbstkritisch wie kaum jemand mit Dingen beschäftigte, die damals höchstens im Zwielicht privater Räume thematisiert wurden: schwuler Sex und leidenschaftlicher Drogenkonsum. Sein Debütroman „Junkie“ von 1953 handelte von den Freuden und Leiden der eigenen Heroinsucht, die ihn sein ganzes Leben lang verfolgte.

Burroughs war gemessen an den reaktionären Verhältnissen der 50er Jahre die menschgewordene Antithese zum bürgerlichen Lebensstil. Damit befreite er nicht nur sich selbst, sondern auch viele seiner Leser aus den gesellschaftlichen Zwangsjacken der angloamerikanischen Nachkriegsgesellschaft und antizipierte dabei nebenbei die kulturellen Revolutionen der späten Sechziger.

Neben der Normalisierung eines queeren sowie hedonistischen Lebensstils, zu dem Burroughs beitrug, hatte besonders seine revolutionäre Schreibtechnik des Cut-up eine enorme prophetische Kraft. Dass jetzt mit „Nothing Here Now but the Recordings“ ein Spoken-Word-Album mit gesammelten Cut-ups wiederveröffentlicht wurde, ist daher längst überfällig.

Entstanden sind die von Burroughs eingesprochenen und mit Radioaufnahmen und Tonfragmenten unterlegten Hörstücke in Zusammenarbeit mit Genesis P-Orridge und Peter Christopherson, zweier ehemaliger Mitglieder der legendären britischen Industrial-Band Throbbing Gristle. Sie entstanden bei Aufnahmesessions im Jahr 1980 in Burroughs’New Yorker Wohnung, die von seinen Freunden und Anhängern liebevoll „The Bunker“ genannt wurde und eine beliebte Anlaufstelle für Musiker, Autoren und Künstler wie David Bowie, Andy Warhol und andere war.

Ein neues Erzählen

Wie die Cut-up-Methode selbst, die immer auch Ergebnis unbewusster Prozesse ist, war die „Entdeckung“ einem Zufall geschuldet. Es war Brion Gysin, ein mit Burroughs befreundeter Maler, der 1959 auf das Phänomen stieß. Als er auseinandergeschnittene Zeitungen zusammenlegte, um sie als Unterlage für seine Bilder zu verwenden, fielen ihm plötzlich die neuen Bedeutungen auf, die die zufälligen Satzkonstruktionen der Papierfetzen ergaben. Burroughs war sofort begeistert und begann noch am selben Tag mit ersten Experimenten.

Die Methode ließ den Schriftsteller nicht mehr los. Mithilfe von vermeintlich willkürlich zusammengestellten Text-, Bild und Tonfragmenten schuf er ein neues Erzählen, das nicht nur die Grenzen der Sprache erweiterte, sondern auch neue Arten der Weltbeschreibung und der Wahrnehmung hervorbrachte.

„Das Leben ist ein Cut-up. Sobald sie die Straße entlanggehen, wird ihr Bewusstsein von zufälligen Faktoren durchschnitten. Das Cut-up ist näher an den Tatsachen der menschlichen Wahrnehmung als die lineare Erzählung,“ sagte Burroughs mal in einem Interview. Für ihn waren Cut-ups aber auch Waffen gegen eine immer mehr von Medien und Slogans beherrschte Welt. Indem er die Sprache in Zeitungsartikeln, Radio und Werbung dekonstruierte und neu zusammensetzte, ergaben sich neue Bedeutungen, die zugleich, quasi via Selbstentblößung, eine genuine Form gesellschaftlicher und politischer Kritik waren.

Die freien, oft absurd scheinenden Sinnzusammenhänge konnten dem Autor zufolge niemals beim freien Schreiben an der Schreibmaschine entstehen. Dort stünde einem die Selbstzensur im Weg.

Dass einige Stücke wie „The Saints Go Marching Through All the Popular Tunes“ in lautem Dröhnen münden, ist kein Zufall. Denn Burroughs beeinflusste nicht nur etliche Künstler und Schriftsteller, sondern auch Musikstile. Zu hören ist sein Einfluss im Beatles-Song „Tomorrow Never Knows“, aber auch in Punk oder Industrial und nicht zuletzt in HipHop und elektronischer Clubmusik, die mit ihren Samples aus Beats und Sounds musikalische Cut-up-Werke schlechthin sind.

„Nothing Here Now but the Recordings“ macht Takes mit wirren Assoziationsketten, absurden Textfragmenten und dadaistischen Klangcollagen wieder zugänglich. Ähnliche Klangcollagen entstehen bei jedem Spaziergang durch eine beliebige Stadt, bei dem uns die immer subtiler ansprechenden Werbetafeln, aber auch die Graffiti und Social-Media-Timelines ihre Slogans zurufen, während das Auge die Welt nach visuellen Reizen abscannt und die Ohren die Umweltgeräusche in einen Dauerloop verwandeln: Nichts anderes sind Cut-ups: Splitter der Wirklichkeit, die uns täglich so etwas wie eine Realität vorspielen.

„How random is random?“ raunt Burroughs in „We See the Future Through the Binoculars Of the People“ und bringt seine hyperrealistische Vision auf den Punkt. Er war überzeugt, dass wir stets mehr wissen, als wir glauben – und dass Cut-ups mit ihrer sprachlichen Expansion jenseits der Verstandeskapazitäten eine neue Weltwahrnehmung jenseits sprachlicher Kontrolle ermöglicht. In Zeiten überschäumender Informationen, in der Kriege immer mehr auch Kriege um Worte und Bilder sind, ist das kritische Potenzial von Cut-ups als Waffen gegen Manipulation und Gedankenkontrolle aktueller denn je.

William S. Burroughs: „Nothing Here Now but the Recordings“ (Dais Recordings)