Interview mit Michael Bouteiller: „Es war eine moralische Entscheidung“

Ex-Bürgermeister Michael Bouteiller stellte sich nach dem Brandanschlag von Lübeck auf die Seite der Flüchtlinge – und nahm Ärger in Kauf.

Vor 20 Jahren ausgebrannt: Die Flüchtlingsunterkunft in der Lübecker Hafenstraße Foto: dpa

taz: Herr Bouteiller, was ist Ihr erster Gedanke, wenn Sie auf den Lübecker Brandanschlag angesprochen werden?

Michael Bouteiller: Unaufgeklärt und unaufgearbeitet.

Etwas genauer bitte.

1996 war Lübeck noch im Bann der in den Jahren zuvor erfolgten Anschläge auf die jüdische Synagoge. Als dann am 18. Januar 1996 dieses schreckliche Morden dazukam, haben sich viele gefragt: Warum immer Lübeck? Deshalb führte das Ereignis mit den furchtbaren Szenen am Brandort zu einer großen Auseinandersetzung in der Stadt.

Sie sind am Brandort in Tränen ausgebrochen und haben anschließend zum zivilen Ungehorsam zum Schutz von Flüchtlingen aufgerufen.

Für mich war die Anteilnahme am Brandort, die dann so hochgejubelt wurde, selbstverständlich. Es bot sich dort ein furchtbares Bild. Ich traf einige Betroffene, die schrecklich weinten, und habe eine Frau, die sich beim Sprung aus dem Fenster verletzt hatte, umarmt. Da kamen auch mir die Tränen. Anschließend habe ich das Rathaus als Treffpunkt für alle Beteiligten und Koordinationspunkt für Hilfeleistungen geöffnet. Da gab es für mich keine Alternative.

72, studierte Rechtswissenschaft und arbeitete als Richter. Von 1988 bis 2000 war er SPD-Bürgermeister von Lübeck. 2000 kandidierte er nach Zerwürfnissen mit seiner Partei nicht erneut. Bouteiller trat Ende 2001 aus der SPD aus, er arbeitet in Lübeck als Anwalt.

Das haben nicht alle Bürger so gesehen.

Ich habe viele Briefe bekommen, in denen mir die Verfasser diese Anteilnahme übel genommen haben, frei nach dem Motto: Der Bürgermeister soll seine Pflicht tun, statt hier rumzuheulen. Diese Kritik an meinem Auftreten wurde flankiert durch „Ausländer raus!“-Parolen. Ich habe aber auch viel Zustimmung für mein Auftreten erfahren.

Sie haben einigen Überlebenden des Brandanschlages unbürokratisch und möglicherweise rechtsbeugend Passersatzpapiere ausgestellt, damit sie ihre Angehörigen in ihrer Heimat beerdigen konnten, und dafür auch innerparteilich massiv Gegenwind geerntet.

Ich konnte in dieser Situation innerlich gar nicht anders handeln. Der Schmerz derjenigen, die ihre Angehörigen verloren hatten, war so überwältigend. Ich hatte zuvor so eine Entscheidung, mit solch gravierenden Folgen für die Betroffenen, noch nie zu treffen gehabt. Es war eine moralische Entscheidung, bei der mir die Konsequenzen für meine Person völlig egal waren.

Vor allem der damalige SPD-Innenminister Schleswig-Holsteins, Ekkehard Wienholtz, aber auch andere Genossen haben Sie dafür kritisiert. Hat zu diesem Zeitpunkt der Prozess der Entfremdung zwischen Ihnen und der SPD begonnen?

Die Entfremdung begann damals, weil mich die Landesebene wie einen Untergebenen behandelt hat. Die meinten, sie könnten mit mir Schlitten fahren und diktieren, was ich zu tun und zu lassen habe. Das ist aber nicht die Aufgabe eines Bürgermeisters. Er ist kein Untergebener. Die wirkliche Entfremdung aber kam erst später, weit nach 1996.

2000 haben Sie auf ihre erneute Bürgermeister-Kandidatur verzichtet, Ende 2001 sind sie aus der SPD ausgetreten. Was hat den Ausschlag gegeben?

„Meine“ SPD hat sich von mir weg entwickelt. Während meine Positionen sich nicht großartig verändert haben, hat sie ihre Standpunkte verlassen. Der eine für mich ausschlaggebende Punkt war die Entscheidung für Militäreinsätze ohne völkerrechtliche Deckung, wie im ehemaligen Jugoslawien und Afghanistan. Der andere gravierende Punkt war die Teilprivatisierung des Rentensystems entgegen aller Wahlversprechen – Stichwort Riester-Rente. Die unglaublich wichtige öffentliche Rente wurde auf 43 Prozent des Einkommens gesenkt, die Privatrente dafür hochgejubelt. Das war für mich pures Umfallen, das Betreten neoliberalen Terrains.

Es gab nur bundespolitische Gründe, die diese Entfremdung bewirkt haben?

Nein. Auch die Lübecker Partei- und Fraktionsführung der SPD haben einen anderen politischen Kurs eingeschlagen, mich immer weniger gestützt und sich spürbar von mir distanziert. Und diese Distanz beruhte dann auf Gegenseitigkeit: Irgendwann hatte ich keine Lust mehr. Nach 2000 hat viel altes Schrot und Korn die Lübecker SPD verlassen.

Sie haben 1996 gesagt: „Wir müssen die Gemeinschaftsunterkünfte auflösen, das unmenschliche Asylgesetz ändern, zivilen Ungehorsam leisten, um die Menschen vor Abschiebung zu schützen“ – gilt das auch noch heute?

Aber natürlich. Sammelunterkünfte in der Erstaufnahme sind aufgrund der großen Zahl der Flüchtlinge wahrscheinlich derzeit unumgänglich. Aber danach müssen die Flüchtlinge sofort zu Wohnraum und in Ausbildung oder Arbeit kommen. Darin besteht die Herausforderung.

Zwanzig Jahre nach dem Lübecker Brandanschlag brennen wieder Flüchtlingsheime, – aber es gibt gleichzeitig eine neue Willkommenskultur.

Der Staat hat versagt: Es gibt – inklusive der Grünen – kein Konzept zur Integration von Flüchtlingen, zur Einwanderung und zum Asylrecht. Auch Angela Merkel wurschtelt sich so durch. Was sich geändert hat: Zu Zeiten des Brandanschlags gab es keine „Willkommenskultur“, sondern nur viele einzelne humanitäre Hilfeleistungen. Die heutige Breite der Hilfsbereitschaft markiert eine Zivilität, die ich noch nie erlebt habe. Darüber bin ich sehr froh. Überspitzt gesagt: Es ist ein Aufstand der Zivilgesellschaft gegen die Katas­trophen, die die Regierungen anrichten, und einen Staat, der bei der Bewältigung dieser Katastrophen versagt.

Haben Sie Angst, dass demnächst noch mehr Flüchtlingsheime brennen?

Ich habe Angst, dass die Polizei wie in Köln Probleme bekommt, mit neuen Phänomenen umzugehen. Ich habe aber keine Angst vor brennenden Asylheimen, weil die rechtsextreme Szene auf eine Bevölkerung treffen wird, die nicht bereit ist, Übergriffe gegen Flüchtlinge hinzunehmen. Auch indem sie solche Heime selbst schützt – anders geht es nicht.

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