Animationsfilm von Charlie Kaufman: Ein Menschlein an unsichtbaren Fäden

Charlie Kaufman ist ein Spezialist für Gefühle der Entfremdung und Verlorenheit. In „Anomalisa“ schleicht sich der leise Horror langsam an.

Zwei Animationsfiguren schreiten durch einen Flur

Künstlich und zugleich hyperrealistisch: die Figuren in „Anomalisa“. Foto: PPG

Stellen wir uns folgenden Auftritt für die kommende Oscar-Verleihung vor: Eine animiertes Puppenmännchen im unauffälligen Businessanzug schlurft schweren Schrittes über den roten Teppich. Für den Mann, der sich wie ein Fremdkörper fühlt, und Michael Stone heißt, sehen die Gesichter der extravagant gekleideten Galagäste allesamt identisch aus. Die Mundwinkel sind leicht nach oben geschoben, das Gesicht ist in einem Dauergrinsen erstarrt. Noch dazu sprechen alle mit der gleichen Stimme, geben Floskeln über Hollywood, das Business oder ihren neuen Film zum Besten.

Michael Stone ist der merkwürdig anrührende Held aus „Anomalisa“. Sein Blick scheint von einem Gleichmachervirus infiziert zu sein, das auch auf sein seelischen Befinden schließen lässt. Bei den Oscars ist der liebevoll gestaltete, sehr eigenwillige Puppenfilm von Charlie Kaufman und Duke Johnson nur in der Kategorie bester Animationsfilm nominiert. Es handelt sich um eine große, irritierende, mit der Stop-Motion-Technik gedrehte Entfremdungsfantasie, die allerdings realer als mancher Realfilm ist.

Von Beginn an scheint der graumelierte Michael Stone sich und seinem Leben abhanden gekommen. Der Film begleitet ihn auf eine Geschäftsreise nach Cincinnati. Dort soll Stone, Autor eines Bestsellers über Verkäufer-Kunden-Kommunikation, einen Vortrag auf einem Kongress halten. Aber irgendetwas ist seltsam: Der Taxifahrer, der ihn vom Flughafen ins Hotel bringt, beginnt allzu routinemäßig einen Smalltalk über das Wetter. Die freundliche Begrüßung des Rezeptionisten kommt wie vom Band, während der Barkeeper roboterhaft sein Cocktailangebot aufsagt.

Erst nach einer Weile wird man gewahr, dass in Stones Umwelt alle Menschen dasselbe Gesicht haben und mit derselben männlichen Stimme (Tom Noonan) sprechen. Einschließlich seiner Frau, mit der er telefoniert, und seiner Jugendliebe, die Stone nach langer Zeit in der Hotellobby wiedertrifft. Letztlich ist Stone in dieser Welt schon ein Außenseiter, weil er anders spricht. Synchronisiert wird er von dem britischen Schauspieler David Thewlis, dessen Akzent ihn als Fremdling im amerikanischen Stimmenallerlei kennzeichnet.

Vorsicht! Zerbrechlich!

Ganz langsam beschleicht den Zuschauer ein leiser Horror angesichts der bedrückend gleichförmigen Umgebung. Dieser Animationsfilm kopiert die Welt eines amerikanischen Handlungsreisenden mit einem hyperrealistischen Effekt, der zum Kommentar auf die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird. Hier verströmen das 300-Dollar-Zimmer der gehobenen Hotelkette die sterile Langeweile aller amerikanischen 300-Dollar-Zimmer. Hier sieht die Hotelbar aus, wie alle Hotelbars in globalisierten Großstädten, und hier benehmen sich die Menschen so konform und unpersönlich wie es Dienstleistungscodes und Rollenbilder erfordern.

In seiner Verlorenheit kommt uns der Puppenmann seltsam nahe. Vielleicht ist es gerade seine Künstlichkeit, die ihn so zerbrechlich, verwundbar erscheinen lässt. Einerseits wirkt Stone in seinem Verhalten und Aussehen realistisch. Andererseits ist da diese Furche, die die Stirn vom Rest des Gesichts trennt und ihn wie eine klassische Marionette erscheinen lässt. Ein Menschlein, das von unsichtbaren Fäden durch seinen Alltag gezogen wird, dabei eher funktioniert als lebt.

Dieser Animationsfilm kopiert die Welt eines amerikanischen Handlungsreisenden mit einem hyperrealistischen Effekt, der zum Kommentar auf die Eintönigkeit der modernen Zivilisation wird

Willkommen im vertraut unvertrauten Universum von Charlie Kaufman! Mit „Anomalisia“ nimmt er einen Perspektivwechsel vor. Bisher nahm er in seinen Filmen die Position des Strippenziehers ein. In seinem von Spike Jonze verfilmten Drehbuch zu „Being John Malkovich“ geht es um einen Marionettenspieler, dessen selbstgeschriebene Stücke für das Publikum zu anspruchsvoll und zu melancholisch sind. „Adaption“, die nächste Zusammenarbeit mit Jonze, kreist um einen mehrfach ausgezeichneten Drehbuchautor in der Schaffenskrise. Er wird den konventionellen Vorstellungen der neuen Auftraggeber nicht gerecht, da es in seinem Skript keine richtige Handlung gibt.

Naturgesetze außer Kraft

Mit diesem Film reflektiert Kaufman seine ganz eigene Art des Drehbuchschreibens und Filmemachens. Seine Arbeiten sind versponnene, fantastische Visionen, in denen Liebende Teile ihre Gedächtnisses löschen lassen, um ihre Gefühle neu zu entdecken (“Vergiss mein nicht!“). In denen moderne Bürohäuser über eine 71/2 Etage verfügen, durch deren halbhohe Räume sich die Angestellten mit eingezogenem Kopf bewegen (“Being John Malkovich“).

Es hat eine gewisse Logik, dass Charlie Kaufman so gern mit Spike Jonze und Michel Gondry zusammenarbeitet, weil diese beiden Regisseure in ihren Musikvideos die Naturgesetze außer Kraft setzen, die Welt aus den Fugen geraten lassen, um ihre Bestandteile besser betrachten zu können.

In Kaufmans Universum scheint es ganz normal, wenn eine kleine Tür hinter einem Aktenschrank direkt in den Kopf von John Malkovich führt. So entdeckt der Puppenspieler Craig aus „Being John Malkovich“, dass er die Bewegungen des Schauspielers und dessen Verhalten manipulieren kann. Der Prozess des Strippenziehens – und letztlich des künstlerischen Schaffens – wird auf skurrile Weise zum Thema.

Regie: Charlie Kaufman, Duke Johnson. USA 2015, 90 Min.

In „Adaption“ kann man einem Drehbuch bei der Entstehung zu sehen. Das geschriebene Wort verwandelt sich in reale Bilder, die ihre Fiktion, ihre „Gemachtheit“ miterzählen. Nicht anders funktioniert die Künstlichkeit der Puppe in „Anomalisa“. Wir begegnen einem Verfremdungs- und Entfremdungseffekt, der uns auf andere Weise teilhaben lässt.

Eben auch an der nächtlichen Begegnung Michael Stones mit Lisa, dem Mädchen aus der Provinz, das eigens in die große Stadt gefahren ist, um seinen Vortrag zu hören. Mit Stone wird man hellhörig, denn Lisa hat eine andere Stimme. Gesprochen wird sie von Jennifer Jason Leigh, die ihr eine Mischung aus Rauheit und Schüchternheit verleiht. Eine Haarsträhne verdeckt ihre vernarbte Gesichtshälfte. Ohnehin scheint es sich hier um ein verletztes Wesen zu handeln, oder besser, um ein Wesen, das seine Verletzung nicht verdrängt, sondern sein Anderssein zu Sprache bringt und damit aus der Gleichförmigkeit hervortritt. Etwa wenn sie in einem berührenden Moment Cyndie Laupers „Girls just want to have fun“ singt.

Beamen wir uns noch einmal in die Zukunft, zur kommenden Oscar-Verleihung und schrauben uns in die Gehirnwindungen von Charlie Kaufman. Was würde also passieren, wenn der Entfremdungsspezialist einen Oscar-Abend gestalten dürfte? Würde er wie sein Alter Ego, der von Nicolas Cage verkörperte Drehbuchautor in „Adaption“, schwitzend im Wege rumstehen,und von der Prominenz übersehen werden? Würde das Virus von „Anomalisa“ auf die Veranstaltung überspringen?

Vielleicht sieht für die Preisträger tatsächlich alles gleich aus. Ein Star steht auf der Bühne und blickt in einen Saal mit klatschenden Menschen, die alle das gleiche Gesicht machen.

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