Der Ministersohn und die Gastarbeitertochter

Musiktheater Sozioökonomische Strukturen und Medienmacht: die Neufassung von Roland Schimmelpfennigs Stück „Das schwarze Wasser“ in Neukölln

Kurz vor seiner ­Vereidigung zum Innenminister ­erleidet Frank einen Zusammenbruch

Ein junges Pärchen in einer lauen Sommernacht. Zwei Bekannte, einander fremd geworden, an einem nasskalten Herbstabend. Zwischen diesen beiden Szenen liegen 20 Jahre. So ist das in Vivan und Ketan Bhattis musikalischer Adaption von Roland Schimmelpfennigs Stück „Das schwarze Wasser“: Zeitsprünge sind eminent wichtig für die Handlung.

Die Story ist klassisch: eine junge Liebe, die nicht anhält – die Liebenden kommen aus verschiedenen Welten. In einer heißen Sommernacht im Freibad treffen sich Frank, Ministersohn, und Leyla, Tochter eines Gastarbeiters. Nach ihrer romantischen Begegnung und einer Nacht, in der sie durch die Stadt zogen, „einer gelebte Utopie, wo alles möglich scheint“, wie Ketan Bhatti es formuliert, gehen sie getrennte Wege und fallen in die Rollen, die die sozioökonomischen Strukturen für sie vorgesehen haben: ein Politiker, eine Supermarktkassiererin. 20 Jahre später treffen sich die beiden zufällig wieder. Seine Eltern sind stolz auf ihn. Ihre sind tot. Kurz vor seiner Vereidigung zum Innenminister erleidet Frank einen Zusammenbruch. Warum?

An sich keine bahnbrechende Ge­schich­te. Doch was die von Michael Höppner erarbeitete Fassung auszeichnet, ist die gelungene Verlegung der Vorfälle in eine Zeitungsredaktion. Nach dem Zusammenbruch kommt die Medienmaschine in Gang. Spekulationen beginnen. Das Stück verbindet das Thema Medienmacht mit unserer Sicht auf Integration. Als Medienkarikaturen sitzen die sechs Figuren des Stücks, dargestellt von SchauspielerInnen mit verschiede en Migrationshintergründen, am Redaktionstisch „der Zeitung“. Sie schlüpfen abwechselnd in die Rollen der Jugendlichen in der Sommernacht der Vergangenheit und der Erwachsenen der Gegenwart.

Eine Welt, zwei Gesichter

Als JournalistInnen versuchen die Figuren festzustellen, was genau geschehen ist. „Vier!“, „nein, fünf!“ Beteiligte habe es an diesem sommerlichen Abend im Schwimmbad gegeben. Während der Rekonstruktion erschließt sich dem Pu­bli­kum allmählich ein immer deutlicheres Bild von dem Vorfall und dessen Auswirkungen auf die Figur Frank.

Im Kern des Stücks steht eine ökonomische Dichotomie, die der einen Gruppe Jugendlichen Chancen bietet und sie der anderen vorenthält: Die einen werden Politiker, Schuldirektorinnen, die anderen Kassiererinnen, Bäckerinnen.Ob hier von Parallelwelten die Rede ist, wird vom Stück beantwortet: „Es gibt nur eine Welt mit zwei Gesichtern. Und einen Markt.“ Diese zwei Gesichter werden von Höppner und den Bhattis künstlerisch und musikalisch beeindruckend umgesetzt.

Die Musik – geleitet von Yonatan Cohen – liegt an der Schnittstelle zwischen Hoch- und Subkultur und oszilliert zwischen klassischen, kammermusikalischen Sätzen und experimentellen, urbanen Klängen, die einen an das Brandt Brauer Frick Ensemble erinnern, mit dem Ketan Bhatti schon gearbeitet hat. Besetzt von einem Streichertrio, Schlagzeug und einer Bassklarinette mit Bodeneffekten, gelingt es dem Orchester, die Gegensätze des Stücks klanglich widerzuspiegeln. Diese Polarität von Hoch- und Popkultur zieht sich als roter Faden durch „Das schwarze Wasser“, der über die Musik hinausgeht. Simple Reime bringen das Publikum zum Lachen – „Du bist nicht krank, Frank“ –, und Witze verstärken diese Klassenungleichheit noch: „Rembrandt? Ist das eine Zahnpasta?“

In dem Stück spiegeln sich die ideologische Lenkung der Medien als Meinungsmacher in unserer Gesellschaft und die daraus entstehenden Gefahren. Anhand der Inszenierung von Realität, Rekonstruktion und journalistischer Darstellung wird die Manipulation deutlich: Eine tragische Geschichte wird skandalisiert und als „Jugendsünde mit Folgen“ verkauft.

In einer Tickermeldung am Ende sieht man die angebliche Folge des Leitartikels: „Rücktrittsforderungen an den jungen Star-Politiker werden laut“. Die reflektierte und kritische Adaption von Schimmelpfennigs Schauspiel ist geglückt.Nicholas Potter

Neuköllner Oper, wieder am 23., 24., 28., 29. 1., 20 Uhr