USA Lydia Davis’Blick auf den Alltag ist ungeheuer klug. Jetzt gibt es eine Auswahl ihrer Kurzgeschichten
: Manchmal nur drei Sätze lang

Ich mag Lydia Davis. Sie ist eine Meisterin der kleinen Form. Sie ist die immer etwas abseits stehende Grande Dame der US-amerikanischen Literatur, Sektion Ostküste. Sie hat französische Klassiker wie Flaubert und Proust ins Amerikanische übersetzt, sie war die erste Frau von Paul Auster (mit dem sie außer einer gewissen New Yorker Düsternis aber wenig gemein hat), und jüngere Autoren wie Jonathan Franzen oder Jeffrey Eugenides bewundern sie – aber trotz all dieser Männer wurde sie lange übersehen.

Was mit den Formaten zu tun haben könnte, die sie bedient: Das Wort „Kurzgeschichte“ ist da meistens noch zu groß (tatsächlich spricht man in den USA auch von „flash fiction“, wie hier das Nachwort erklärt). Lydia ­Davis schreibt Kurzprosa. Kürzestgeschichten. Manchmal nur drei Sätze lang. Mit einem Roman hat sie es auch einmal probiert, aber ähnlich wie bei Alice Munro war das Ergebnis nicht weiter erwähnenswert. Also blieb sie bei ihrem Steckenpferd.

Jetzt ist die Sammlung „Reise über die stille Seite“ erschienen, preiswert als Taschenbuch, ein Sampler mit selbst ausgesuchten Stücken aus dem bisherigen Œuvre, auch aus dem letzten Hardcover-Band „Kann nicht und will nicht“ (Droschl, 2014), mit dem sie in Deutschland vom Supergeheimtipp immerhin zum Tipp unter Fans aufgestiegen war (siehe taz vom 7. 10.2014). Schon das zweite Stück, „Mildred und die Oboe“, beginnt so: „Letzte Nacht hat ­Mildred, meine Nachbarin im Stockwerk unter mir, mit einer Oboe ­masturbiert. Die Oboe röchelte und quietschte in ihrer Vagina.“

Aber keine Angst, so explizit geht es nur am Anfang zu. Mehrheitlich sind Davis’Geschichten nahezu spröde und fast banal. Sie gehen meist von einem Ich aus, das nicht so weit von der Autorin entfernt scheint, und schauen auf die nahe gelegene Welt, um sie in kleine anekdotische Einheiten zu zerteilen. Von Nachbarsgeschichten bis zu halb fiktiven Briefen an Cornflakeshersteller ist es da nie weit – trotzdem merkt man stets das subtil Akademische, das in ihren Stücken mitschwingt. Lydia Davis ist eine Autoren-Schriftstellerin (writer’s writer). Noch so ein Malus in Sachen Publikumsgewinnung also. Muss aber ebenfalls keiner sein.

Die Längen dieser Stücke sind aber durchaus unterschiedlich. Vom Zweizeiler bis zur zehnseitigen Geschichte ist alles dabei. Die Kurzgeschichte, eine Form, die in den USA eine große Tradition hat, hat es im deutschsprachigen Raum bekanntlich schwer. So recht zu verstehen ist das nicht. Denn eigentlich hat die Kurzgeschichte die perfekte Lesezeit: Sie passt in eine Bahnfahrt, in eine Wartezeit beim Arzt, sie verkürzt die Zeit beim Kochen, ist ideal für kurze bedürfnisorientierte Rückzugsmomente.

In der heutigen Zeit der schnellen Information ist die Kurzgeschichte beinahe eine Langstrecke. Wer braucht da schon Romane? Vor allem, wenn sie so auf den Punkt ist wie bei Lydia Davis, mal rätselhaft, mal versponnen oder lettristisch (das Nachwort des Übersetzers Klaus Hoffer probiert es denn auch gleich mit Franz Mon, also im weitesten Sinne konkreter Poesie als Referenz, was einigermaßen unnötig ist).

Aber eine Geschichte von ­Lydia Davis ist immer irgendwie besonders und verständlich. Kurzum: Mit ihr ist man wirklich aufs Beste bedient (wie sonst vielleicht nur mit dem viel zu lange übersehenen Donald Barthelme – sollte einem, wie dem Rezensenten, die Literaturnobelpreisträgerin Alice Munro persönlich zu dramatisch sein).

Bei Davis geht es um die kleine Erzählung, die kleine Begebenheit, die große Reflexionsschleifen auslösen kann. Summarische Miniaturen. Spätpostmoderne Literatur mit Anschluss an die Echtwelt des Hier und Jetzt. René Hamann

Lydia Davis: „Reise über die stille Seite“. Aus d. Amerik. v. Klaus Hoffer. S. Fischer, Frankfurt a. M. 2015, 304 S., 10,99 Euro