Sexuelle Übergriffe: Der Heimweg

Nahezu jede Frau hat sexuelle Übergriffe erlebt. Wir fragten taz-KollegInnen, wie es sich anfühlt, nachts nach Hause zu gehen. Hier einige Antworten.

Illustration als Filmstreifen, die in zwei Bildern eine Hand zeigt, erst neben, dann auf dem Po

In der U-Bahn, auf der Straße, im Hellen und im Dunkeln: Sexuelle Übergriffe sind Alltag. Foto: Stephanie F. Scholz

Sind sexuelle Übergriffe der Normalfall? Wir baten unsere KollegInnen, von ihrem Heimweg zu berichten. Fast alle Berichte erzählen von sexuellen Übergriffen. Keine der Frauen ging zur Polizei. Warum nicht? Weil sexuelle Übergriffe die Betroffene immer als Einzelne treffen. Und Anzeigen, das zeigen die Erfahrungen betroffener Frauen, bringen oft nichts.

Wir veröffentlichen hier einige der Antworten und rufen Sie dazu auf, uns Ihre Geschichte zu schicken, falls Sie Ähnliches erlebt haben. Schreiben Sie an: heimweg@taz.de.

Die zuständigen Redakteurinnen Waltraud Schwab und Steffi Unsleber behandeln Ihre Mails vertraulich. Auf dem taz-blog Der Heimweg veröffentlichen wir weitere Berichte von KollegInnen und LeserInnen. Natürlich nur, wenn Sie der Veröffentlichung zustimmen.

Klar hast du Angst

Es war einer der ersten warmen Abende, also hatte ich das Fahrrad genommen. Ich kam von einer Party und war auf dem Heimweg, kurz nach Mitternacht. Am Potsdamer Platz, der zu dieser Zeit zwar hell erleuchtet, aber wenig besucht ist, rollte ich an eine Ampel heran. Dort lief ein Mann über die Straße. Als er mich sah, drehte er um und kam auf mich zu. Er stellte sich mir in den Weg, so dass ich abspringen musste, die Fahrradstange zwischen den Beinen. Er trat ganz nah an mich heran, viel zu nah. So, dass ich seinen Atem riechen konnte. Alkohol. Der Mann war so groß wie ich, schmächtig. „Na, hast du jetzt Angst?“, fragte er mich in perfektem Deutsch. „Nein“, sagte ich mit zittriger Stimme und guckte krampfhaft gerade aus. „Klar hast du Angst.“

Ich bin groß, ich habe Kraft, ich kann mich wehren. Eigentlich. Nicht in diesem Moment. Ich war wie erstarrt. Er griff mir zwischen die Beine, schob meinen Rock hoch, hielt mich fest. „So eine Fotze wie deine, die will ich ficken.“

So stand ich ein paar Sekunden. Dann sprang ich auf mein Rad und raste los. Kein Blick auf die Straße, keiner auf die Ampel, einfach geradeaus. Mein Herz schlug schnell, in meinem Kopf hämmerte es, ich brauchte lange, um mich zu beruhigen.

Sind sexuelle Übergriffe der Normalfall? Wir baten unsere KollegInnen, von ihrem Heimweg zu berichten – und erhielten sehr viele Antworten.

Wir rufen Sie dazu auf, uns Ihre Geschichte zu erzählen, falls Sie Ähnliches erlebt haben. Schreiben Sie an: heimweg@taz.de. Die zuständigen Redakteurinnen Waltraud Schwab und Steffi Unsleber behandeln Ihre Mails vertraulich. Auf dem taz-blog Der Heimweg veröffentlichen wir die Berichte. Natürlich nur, wenn Sie der Veröffentlichung zustimmen.

Zur Polizei ging ich nicht. Vielleicht, weil ich bei einem ähnlichen Angriff, bei dem mir ein Finger gebrochen wurde, schon einmal kein Erfolg mit einer Anzeige hatte.

Außer meinem Freund erzählte ich lange niemandem davon und auch jetzt frage ich mich wieder: Will ich diesen Text unter meinem Namen veröffentlichen? Eigentlich schäme ich mich. Aber wofür eigentlich?

Anne Fromm, 29, ist Medienredakteurin der taz

Die Bewegung war rhythmisch

Eine Station mit der in der U-Bahn-Linie 7, irgendwann spätabends im Hochsommer, vom Hermannplatz zum Rathaus Neukölln. Angemessen viel nackte Haut, auch Hitze, ermattete Gesichter überall. Ich dachte nichts, als ich an der Tür stehend durch die anderen Fahrgäste hindurch schaute. Ich dachte nichts, als ich aus den Augenwinkeln eine Bewegung wahrnahm. Ich dachte nichts, als mein Blick sich wie die Linse einer Kamera auf den Ort scharf stellte, an dem die Bewegung stattfand: die Hosentasche eines älteren Mannes, der ungefähr eine Armlänge von mir entfernt stand.

Dann registrierte ich, dass die Bewegung andauerte, dass sie rhythmisch war, und dass sie sich eigentlich auch nicht wirklich in der Hosent asche abspielte, sondern mittiger, Richtung Schritt. Dann dachte ich sehr schnell sehr viel. Zum Beispiel: Der holt sich ernsthaft durch die Hosentasche einen runter!

Ich registrierte, dass er mich dabei anschaute und grinste, weil er gesehen hatte, dass ich gesehen hatte, was er da machte, und dachte an damals, als mich einer ungefragt unter der Dusche in der Saunalandschaft umarmte. Entschuldigung, was machen Sie da?, hatte ich gefragt, weil ich tatsächlich nicht wusste, was da gerade passiert war und mir nichts besseres einfiel. Bis meine Beine aufhörten zu zittern und ich den Bademeister informiert hatte, war der Typ über alle Berge.

All das dachte ich in der U7. Und sagte nichts. Guckte weg. Stieg aus. Ging etwas schneller durch die Dunkelheit und ließ die heiße Luft tief in meine Lungen, als ich bemerkte, dass er mir nicht folgte.

Franziska Seyboldt ist Autorin der taz

Es sah komisch aus

Es war im Sommer. Ein Tag in den Ferien im italienischen Strandort, in den wir so gut wie immer fuhren. Ich war vielleicht zehn. Ich langweilte mich und lieh ich mir ein Fahrrad, um die Gegend zu erkunden. Laut Umgebungsplan sollte irgendwo das Denkmal des großen italienischen Revolutionärs Ramazzotti stehen. Irgendwo dort im Pinienwald. Falls sich wer wundert: Es waren die frühen achtziger Jahre, es gab noch keine Helikoptereltern. Wir waren jung und frei. An diesem Tag auch etwas einsam.

Ich düste mit dem bicicletta in den Pinienwald. Es ging tief hinein. Und noch tiefer. Keine Menschen mehr, nur noch Bäume. Und keine Ahnung, wo das Denkmal ist.

Irgendwann sah ich einen erwachsenen Mann, ungefähr im Alter meines Vaters, der mit heruntergelassener Hose am Weg stand und seinen Schwanz bearbeitete. Er sah mich und winkte mich heran. Ich hielt, im vorsichtigen Abstand, vielleicht brauchte er ja Hilfe, dachte ich, denn irgendwie sah das komisch aus. Sein Schwanz war so geschwollen. Dick, rot und geschwollen.

Ich war zehn. Ich weiß nicht, was passiert wäre, wenn nicht ein Vater mit seiner Tochter auf dem Fahrrad sich in diesem Augenblick genähert hätte. Der Italiener packte sofort seinen Schwanz ein, was mir signalisierte, dass hier irgendwas nicht stimmte. Ich setzte mich rasch aufs Rad und fuhr davon.

Ich war wohl etwas verstört, gesprochen habe ich mit niemandem darüber. Erst viel später, als mir meine erste Freundin schilderte, wie sie als Kind aus einem fahrenden Wagen heraus angemacht wurde, auch hier mit männlicher Entblößung, erzählte ich diese Geschichte.

René Hamann, 44, ist Autor der taz

Wie ein Hase

Ein Juliabend 2003 in Straßburg. Ich jogge in einem stadtnahen Wald. Den angrenzenden Park, in dem andere Läufer und Spaziergänger unterwegs sind, habe ich hinter mir gelassen. Ich fühle mich frei. Plötzlich höre ich das Knirschen von Fahrradreifen. Ein Mann radelt an mir vorbei, schaut mich an. Einen Tick zu lang. Im Weiterfahren dreht er sich nach mir um. Auf einmal ist das Gefühl der Freiheit, der Stärke weg.

Mein Bauch funkt Alarm. Ich kehre um, will dorthin zurück, wo Leute sind. Einen halben Kilometer muss ich schaffen. Ich ziehe das Tempo an. Jetzt bloß kein Seitenstechen kriegen. Ich werfe einen Blick über die Schulter. Der Mann wendet in diesem Augenblick und fährt auf mich zu. Er ist nicht sportlich, eher übergewichtig, aber mit dem Rad kann er mich leicht einholen. Ich denke nicht mehr, ich funktioniere. Starte durch. Eine leichte Biegung der sonst schnurgeraden Forststraße bringt mich für einige Sekunden außer Sicht. Meine Beine springen über einen kleinen Graben, tragen mich nach rechts in den Wald hinein. Schnell, schneller, hinein ins Unterholz. Tief, tiefer, da wo es dunkel ist. Junge Fichten bilden einen Sichtschutz, ich kauere hinter ihnen zusammen. O Gott, wie meine türkisfarbene Jacke leuchtet. Ich ziehe sie aus, verstecke sie im Laub.

Da taucht schon der Mann auf. Sein Benehmen gibt meinem Bauchgefühl recht. Langsam, suchend, fährt er an den Baumreihen vorbei, starrt links und rechts in den Wald. Einmal steigt er vom Rad, blickt in meine Richtung. Mein Herz hämmert. Das Blut rauscht mir in den Ohren. Er kehrt um, fährt die Straße erneut ab. Hin und her. Er sucht mich, ich weiß es. Hass steigt in mir auf. Ich hasse ihn, dass ich mich verstecken muss wie ein Hase. Bittere Demütigung steigt in mir auf, spült Erinnerungsfetzen an die Oberfläche: eine Münchner U-Bahn-Station. Ein Mann starrt mich an und macht obszöne Bewegungen mit seiner Zunge. In der Nähe warten zwei, drei weitere Fahrgäste. Ich traue mich zu sagen: „Glotz mich nicht so an!“ Er antwortet mir: „Ich kann dich ficken, wann ich will!“ Die Anwesenden schauen weg.

Das Münchner Oktoberfest. Ich schlendere mit einer Freundin zwischen den Fahrgeschäften umher. Auf einmal spüre ich fremde Finger zwischen meinen Beinen. Eine widerliche Kraulbewegung. Ich drehe mich um, sehe hinter mir vier, fünf Männer, die in der Menge verschwinden. Einer von ihnen war es. Wer? „Du Schwein!“, schreie ich wütend hinterher. Ein paar Jahre später, in London: Ich tanze mit einem Mann in einem Club. Mitten auf der Tanzfläche greift er mit beiden Händen meinen Busen. Ich sage, dass ich das nicht mag. Er beschimpft mich: „Deutsche Nazischlampe!“

Und jetzt hocke ich hier in diesem Wald. Allein. Ich weiß nicht, wie lange. Fünf, zehn Minuten? Hinter den schwarzen Gitterstäben der Bäume sehe ich, wie der Mann endlich wegfährt. Ich knülle meine Jacke unters T-Shirt und husche geduckt einige hundert Meter durch den Wald, parallel zur Straße, ehe ich mich auf diese zurückwage. Noch einmal renne ich, wie um mein Leben. Endlich, die ersten Spaziergänger tauchen auf.

Da höre ich in meinem Rücken Reifenknirschen und eine Stimme. Jemand sagt: „Guten Abend, die Dame!“, die Worte übertrieben freundlich gesprochen. Es ist der Typ auf dem Fahrrad. Er fährt an mir vorbei und grinst mich ölig an. Er weiß, dass er mir Angst gemacht hat und freut sich. „Drecksau!“, brülle ich. Die Leute drehen sich um. Den Mann festhalten und die Polizei zu rufen, darauf komme ich nicht. Was könnte ich beweisen?

Margarete Moulin, 43, ist Bayern-Korrespondentin der taz

Einer dieser Kiezgänger

Es muss Ende der neunziger Jahre gewesen sein. Ich war mit einigen Freunden im Hamburger Stadtteil Sankt Pauli unterwegs. Weil sich ein Freund von uns an der Hand verletzt hatte, standen wir direkt vor der Polizeistation Davidwache und warteten. Er wollte sich kurz ein Pflaster holen.

Wir unterhielten uns, als mir jemand seine Hand von hinten in den Schritt schob. Als ich mich umdrehte und vielleicht gerade noch einen empörten Laut rausbrachte, sah ich einen Typ im Vorbeigehen. Er war recht jung, alkoholisiert, hatte blonde Haare. Einer dieser Kiezgängertypen, die Frauen wie Ware behandeln. Einer meiner Freunde reagierte schnell und ging hinter ihm her – das habe ich ihm hoch angerechnet.

Lena Kaiser, 33, ist Redakteurin und Chefin von Dienst bei der taz Nord in Hamburg

Wir haben dich gesehen

Es ist nicht spät, aber dunkel. Jeden Abend antizipiere ich die beiden Möglichkeiten, die ich habe: Gehe ich den Weg vorbei am Bauschutt, im gelben Licht der Straßenlaternen, schlängele mich um die tiefen Pfützen herum, lasse Autos an mir vorbeibrausen? Oder nehme ich den Weg entlang am Spreeufer: Ich kann das Wasser riechen, die Wellen ans Ufer plätschern hören. Klar: Wasser riechen, Wellen lauschen!

Es gibt kein Licht, man kann die Bäume erahnen, und oft sitzen da Männer, die die Angeln bewachen, die sie ins Wasser halten. Man bemerkt sie erst beim Vorbeigehen, so finster ist es. Tagsüber grüßt hier niemand. Aber die Angler im Dunkeln schaufen den Rauch ihrer Zigarette aus. Sagen „Hallo“. Hallo, wir haben dich gesehen. Hallo, hier sind wir. Klingt das wie eine Warnung?

Am nächsten Abend stehe ich wieder an der Treppe. Geradeaus zur Spree, links zum Bauschutt. Mein Kopf diktiert die Frage: In welchem Jahrhundert, in welchem Land leben wir? Also gehe ich geradeaus, entlang der Spree. Ich gehe schnell. Ich höre die Wellen nicht, sondern nur mein Blut im Ohr rauschen.

Carolin Pirich ist Autorin der taz

Immer gute Manieren

In Erlangen konnte ich mir kein Zimmer leisten, also fuhr ich jeden Abend nach der Uni mit der Regionalbahn ins billigere Nürnberg, Aussteigen, nach Hause laufen, das dauerte zwei Zigarettenlängen. Als die Kälte einmal nicht auszuhalten war, nahm ich die U-Bahn. Außer mir warteten nur zwei junge Typen, dann kam ein älterer Herr angetippelt, er trug eine feine Anzughose und ging am Stock. Er setze sich zu mir und wir redeten über das Wetter. Er schlug mir vor, noch einen Kaffee zu trinken. Es war schon nach 22 Uhr. Als ich absagte, wirkte er pikiert.

Dann streckte er sich plötzlich nach mir und umgriff mich, ich sah einen glänzenden Tropfen Rotz in seinen Nasenhaaren. Wie windet man sich aus einer Umklammerung? Dass so ein kleiner alter Mann viel stärker ist als ich, wusste ich nicht. Soll ich um Hilfe rufen? Ist das nicht hysterisch? Und was, wenn die beiden jungen Typen dann mitmachen?

„Täter nicht duzen“, fiel mir ein, also sagte ich: „Lassen Sie mich los!“ Er richtete sich wieder auf. Ich versuchte, zu erklären: „Das können Sie doch nicht machen, damit erschrecken Sie doch die anderen.“ Ich wusste nicht, wie ich die Situation zu einem angenehmen Ende bringen konnte, nachdem ich laut geworden war.

Dann fuhr die U-Bahn ein, er blieb sitzen. „Ich muss jetzt los“, sagte ich. Dann gab ich ihm die Hand. „Einen schönen Abend noch“, wünschte ich ihm. Er lächelte. Manieren. Immer gut benehmen.

Ich hätte ihn beschimpfen sollen, anbrüllen, mich wehren. An dem Abend rief ich erst die Polizei und dann meine Mutter an. Ich habe jüngere Geschwister, die genau so erzogen wurden wie ich. Wir werden lernen müssen, „Fuck off!“ zu brüllen.

Donata Kindesperk, 31, arbeitet als Illustratorin und betreut bewegung.taz.de

Wie ferngesteuert

Es war nicht einmal der Heimweg. Es war nicht dunkel, nicht Nacht, sondern morgens, Berufsverkehrszeit, auf dem Weg zu einem Arzttermin. Ich laufe zur Bushaltestelle, eine Linie, die ich sonst nie nehme, will auf den Fahrplan schauen. Der Typ, der schon an der Haltestelle steht, kommt mir entgegen, bleibt neben mir stehen. Hält meinen freien Arm fest, fasst mir an die Brust, versucht, sich an mich zu drücken, sagt: „I want to fuck you.“

Ich stoße ihn weg, wobei ich gar nicht weiß, ob ich das tatsächlich tue oder ob er sowieso schon von mir abgelassen hat, denn das alles kann nur wenige Sekunden gedauert haben. Dann ist er weg und ich stehe da, paralysiert. Schaue mich um. Hier ist wirklich kein Mensch, niemand, der etwas gesehen hat oder ihn gesehen hat, oder – ich weiß nicht, was sollte das überhaupt bringen? Der Bus kommt. Ich steige nicht ein, brauche Luft. Laufe. Gehe wie ferngesteuert zu dem Termin. Frage mich, warum ich es nicht geschafft habe, ihm eine runterzuhauen, mich zu wehren. Und habe zum ersten Mal eine Ahnung davon, warum Frauen nach Übergriffen nicht zur Polizei gehen.

Die Autorin ist Redakteurin der taz

Ist der nicht süß?

Ich bin 1968 geboren. In den siebziger und achtziger Jahren gab es viele Verhaltensregeln für Frauen: nicht trampen, keine kurzen Röcke anziehen, nachts nicht alleine herumlaufen, der ganze Scheiß. Als ich 15 war, bin ich auf eine Jugendfreizeit gefahren. Wir waren gerade auf dem Weg zurück zum Campingplatz, ich und eine Freundin. Es war Sommer: supergeiles Wetter, blauer Himmel und Sonnenschein. Ich hatte ein rosa Frottee-Minikleid an. Wir sind an einem Spielplatz vorbeigekommen. Drei Typen liefen uns entgegen, einen davon fand ich gut. Ich sagte noch zu meiner Freundin: Schau mal, sieht der nicht süß aus?

Sie kamen näher und dann ist passiert, was nicht passieren kann. Wofür es keine Worte gibt. Alle drei haben mich vergewaltigt. Meine Freundin haben sie währenddessen festgehalten. In welchem Zustand ich danach war, weiß ich nicht mehr. Wir haben eine Abkürzung genommen, um schneller zum Campingplatz zu kommen. Und plötzlich kamen uns die Typen wieder entgegen.

Diesmal bin ich ausgeflippt, habe geschrien und bin zu einem älteren Ehepaar geflüchtet. Es war der letzte Tag auf der Ferienfreizeit. Als ich wieder zu Hause war und mich meine Mutter und meine Oma fragten, wie es war, ist alles aus mir herausgesprudelt. Als ich fertig war, haben sie danach weiter über ihr voriges Thema gesprochen, als wäre nichts passiert. Erst Jahre später wurde mir klar, dass die Situation sie überfordert hat und sie mein Erlebnis verdrängt haben – wie ich, um weiterleben zu können. Unterstützung hatte ich keine.

Ich habe die Täter nicht angezeigt. Ich habe mich immer gefragt: Wenn ich der Polizei die Wahrheit erzähle, was soll ich denn dann sagen?

Mit 40 habe ich eine Therapie gemacht und viel verstanden: Warum keine Beziehung halten konnte, zum Beispiel. Wenn mich danach ein fremder Typ angefasst hat, habe ich mich immer gewehrt. Ich glaube, einem habe ich den Arm gebrochen, es klang zumindest so. Das war mir scheißegal. Seit das passiert ist, habe ich auch keine Angst mehr: Weil es keinen wirklichen Schutz gibt. Wenn es nachmittags um halb fünf neben einem Spielplatz passieren kann. Die einzige Chance ist, Frauen stark zu machen. Körperlich und psychisch, damit sie sich wehren können.

Die Autorin, 47, arbeitet im taz-Verlag

Möglichst unauffällig

Wenn ich nachts mit der U-Bahn nach Hause fahre, ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf, bevor ich den Waggon verlasse. Im Sommer binde ich meine Haare zusammen und stecke sie in den Kragen. Ich versuche, so unauffällig wie möglich zu sein. Ist es sehr spät, rufe ich manchmal Freunde an und bitte sie, am Apparat zu bleiben, bis ich in meiner Wohnung bin. Es läuft sich dann ruhiger durch die dunklen Straßen am Rande des Industriegebiets in Berlin-Neukölln.

Ich bin blond, meine Haare sind lang. Als ich neu in Berlin war, habe ich sie auch auf dem Nachhauseweg offen getragen. Und bin stehen geblieben, wenn mich jemand angesprochen hat. Heute mache ich das nicht mehr. Ich gehe schnell, ignoriere alle Männer und schaue ihnen nicht in die Augen. Selbst wenn ich mir etwas in einem Imbiss kaufe, lächle ich nie, bin knapp und sachlich.

Als ich das noch nicht getan habe, sind mir oft Männer gefolgt. Sie starren. Lehnen sich an mich. Rufen: „Hey Süße!“ Sie pfeifen hinter mir her, zischen: „ssss“. Einmal versperrte mir einer den Weg, fragte: „Wollen wir ficken?“ Ich schob ihn weg, ging weiter, immer die Spät-Shops und Kneipen im Blick, in denen ich notfalls verschwinden könnte.

Meist sind es arabisch oder türkisch aussehende Männer, deren Blicke an mir kleben. Ich bin durch viele arabische Länder gereist, durch Marokko, Ägypten, Syrien, Jordanien, Palästina, und oft war ich alleine. Unter den reisenden Frauen war die Belästigung durch Männer oft ein Thema. Ich kenne keine Frau, die dort war, und das nicht erlebt hat.

Als ich in Fès, in Marokko, eine Marktstraße entlangging, griff eine Hand in meinem Po, brutal, drängend. Es tat weh. Als ich mich umdrehte, sah ich das Gesicht des Mannes. Seine Augen waren hart, seine Miene starr.

Oft, wenn mich die Blicke der Männer in Neukölln verfolgen, erinnere ich mich daran.

Klar ist: Es gibt sexuelle Gewalt in allen Ländern dieser Welt. Wie oft wurde ich schon von Deutschen belästigt, selbst als Journalistin. Oft ist das auf Dörfern in Süddeutschland passiert. Da waren Männer, die ihre Körper an mich pressten. Männer, die mich baten, bei ihnen zu übernachten. Männer, die mir nach einem Interview ihre Liebe gestanden. Es macht mich wütend, wenn gesagt wird, dass Herkunft bei den Männern, die sexualisierte Gewalt anwenden, keine Rolle spielt. Marokko oder die bayerische Provinz – es sind Männer aus Milieus, in denen Frauen weniger zählen.

Wie ich auch weniger zähle, wenn ich nachts durch Neuköllner Straßen gehe, das Handy in der einen, den Schlüssel in der anderen Hand. Es geht um Macht, wenn ich in diesen Straßen meine Haare verstecken muss. Auf ihren Heimwegen haben Frauen oft keine.

Steffi Unsleber, 28, ist Redakteurin der taz.am wochenende

Nimm bitte ein Taxi

Ich lebe seit elf Jahren in Köln und habe mich zu keinem Zeitpunkt unsicher gefühlt. Nicht in den Industriebrachen der Stadt, nicht unter schlecht beleuchteten S-Bahn-Bögen, nicht auf dem Fahrrad nachts um zwei. Ich habe lange in Berlin gelebt, eine Weile in Istanbul und Paris, und ich kenne die Situationen, in denen es unangenehm ist, als Frau in der Öffentlichkeit unterwegs zu sein.

In Köln dagegen habe ich mich immer sicher gefühlt. Seit Silvester ist das anders. Wenn ich jetzt abends weggehe, sagt mein Mann: Nimm bitte ein Taxi. Im Bekanntenkreis ist es genauso. Ich kann mir das leisten. Andere nicht.

In Köln werden Zugezogene wie ich liebevoll „Immis“ genannt. Das erzählt viel. Köln, das war für mich immer eine Stadt der Weltoffenheit und Toleranz. Dass dieses Bild beschädigt wurde, tut mir weh. Und dass mir meine Unbeschwertheit geraubt wurde, macht mich wütend.

Claudia Hennen, 40, ist taz-Korrespondentin für Nordrhein- Westfalen

Wasch dich mal

„Lonsdale“ steht auf seiner schwarzen Jacke. Sein aschbraunes Haar hängt in Strähnen bis zum Kinn. Schwarze Schuhe. Weiße Schuhbänder. Ein Donnerstag, kurz vor Mitternacht, in Berlin. Ich stehe in der U6 Richtung Alt-Mariendorf und halte den Atem an. Er steht zwei Meter von mir entfernt, ist größer, breiter als ich und mit seinem Handy beschäftigt. Ich ziehe den Schal hoch, bis er meine Nase verdeckt. Ich drehe mich weg. Den weißen Schriftzug seiner Jacke sehe ich trotzdem, er spiegelt sich in der U-Bahn-Tür. Außer uns sind nur zwei Teenager und eine alte Frau im Waggon. Ich sollte aussteigen, denke ich. Dann, als die U-Bahn hält, steigt er aus. Ich atme auf. Es dauert noch zwei Stationen, bis sich meine Anspannung löst.

Ich weiß ja, dass sich von Klamotten nicht zuverlässig auf Gesinnung schließen lässt. Aber für mich sind es kleine Hinweise, die mich achtsam sein lassen, weil sie schon oft zutrafen. Meistens gibt es jedoch gar keine Hinweise und ich stolpere unvorbereitet in diese Situationen.

Ich war 12, als mich ein weißer Mann um die vierzig, ein Anzugträger mit Aktentasche, auf der Straße auf meine „Mandelaugen“ ansprach und sagte, er wolle Sex mit mir. Ich war 15, als mich vier Neonazis eines Nachmittags auf der Straße einkreisten, mich „Negerschlampe“ nannten und mich zwischen sich hin und her schubsten. Ich war 17, als mich der rothaarige muskelbepackte Typ aus der Nachbarschaft nachts bis vor die Haustür verfolgte und versuchte, mich mit seinen „Du willst es doch auch“-Sprüchen und seinem riesigen Körper einzuschüchtern. Und ich war 25, als mir in einer Bar ein gut gekleideter, blonder junger Mann, nachdem ich seine Avancen abgelehnt hatte, sagte, ich solle mich „mal mit Seife waschen, dann geht der restliche Dreck auch noch weg“.

Man nennt es Intersektionalität, wenn in einer Situation der Diskriminierung etwa Sexismus und Rassismus gleichzeitig auftreten. Intersektionelle Diskriminierung liegt etwa vor, wenn Männer ein animalisches, hypersexuelles Bild von Women of Color haben. Oder bei Männern, die denken, eine Schwarze Frau müsse dankbar sein, dass sich ein Weißer überhaupt mit ihr abgibt. Und auch bei Rechten ist Sexismus im Spiel, wenn sie eine Frau als vermeintlich wehrloses Opfer aussuchen.

Als ich in Tempelhof aus der U-Bahn steige, fühle ich mich etwas besser. In Berlin scheint dieser Bezirk das geringere Übel zu sein. Denn während Frauen zwar auch hier wie selbstverständlich nach Einbruch der Dämmerung nicht durch Parks gehen, dunkle Ecken meiden und Gruppen von Männern oder Jugendlichen schon mal als Veranlassung sehen, die Straßenseite zu wechseln, scheint es abgesehen davon für Women of Color einigermaßen sicher zu sein. Vor meinem Umzug habe ich bei jeder Wohnung, die mir gefiel, nach rassistischen Übergriffen in der Umgebung gegoogelt.

In östliche Stadtteile wie Lichtenberg, Marzahn-Hellersdorf oder Treptow-Köpenick fahre ich nicht.

Saskia Hödl, 30, ist Redakteurin der taz

Ein weißer Zorn

Es ist fast 40 Jahre her, dass ich mit einer Freundin in der Münchner Innenstadt auf dem Weg ins Kino war, Sonntagnachmittag gegen 16 Uhr. Ein angetrunkener Mann packte meine Freundin plötzlich am Arm und machte anzügliche Bemerkungen, an die ich mich im Detail nicht mehr erinnern kann.

Meine Freundin war völlig verwirrt und verblüfft und hat nicht reagiert. In mir schoss plötzlich ein weißer Zorn hoch, den ich extrem selten empfinde. Und der bedeutete: Es kann nicht wahr sein, dass zwei zwanzigjährige Frauen sich am Sonntagnachmittag um 16 Uhr im öffentlichen Raum nicht sicher fühlen können. Ich neige überhaupt nicht zur Gewalttätigkeit, auch weil ich weiß, dass ich in 99,9 Prozent der Fälle verlieren würde. Aber ich habe mir gar keinen Kopf mehr darüber gemacht. Ich bin auf diesen Mann zugegangen, jenseits der Komfortzone, war fünf Zentimeter vor seinem Gesicht und habe gesagt: Sie lassen sie jetzt los, sonst wird es ganz, ganz schwierig.

Er war völlig verdattert, stolperte zurück, murmelte etwas, drehte sich um und ging weg. Ich glaube nicht, dass ich in meinem Leben sehr viel häufiger ein solches Gefühl der Befriedigung und des Triumphs empfunden habe wie damals. Weil ich das Gefühl hatte, dass ich unseren Raum verteidigt habe.

Mir ist klar, dass das nicht in jeder Situation funktioniert. Meine Moral aus der Geschichte ist nicht: Wehrt euch halt, dann passiert euch nichts. Ich weiß, dass ich Glück hatte. Ich wollte diese Geschichte aus einem anderen Grund erzählen: Für mich war es ein prägendes Erlebnis. Man nimmt das immer so hin: Du wirst mit 17 in der Disco angemacht, du wirst mit 18 auf dem Bahnhof angemacht, du wirst immer angemacht und niemand nimmt es zur Kenntnis. Und das ist das erste Mal, dass ich mich erinnern kann, als sehr junge Frau einfach Stopp gesagt zu haben.

Sexuelle Übergriffe gibt es seit Jahrzehnten. Niemand hat es wirklich interessiert, jenseits von Augenzwinkern und Altherrenwitzen. Und das Bedürfnis, den öffentlichen Raum zu verteidigen, das gibt es auch schon länger als die Ereignisse in der Kölner Silvesternacht.

Bettina Gaus ist politische Korrespondentin der taz

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.