Tretbootfahren mit Soundtrack

Sonntag Die isländische Band múm vertont „Menschen am Sonntag“, den Stummfilmklassiker nach dem Drehbuch von Billy Wilder, neu

Alle gehen raus, nur Model Annie bleibt verkatert im Bett Foto: imago

Sonntag ist schon ein seltsamer Tag. Einer, der eine ganz eigene Zeitrechnung zu haben, anderen Gesetzmäßigkeiten zu folgen scheint. In der Popkultur der vergangenen Dekaden betrachtete man den letzten Tag der Woche mit einer Mischung aus Ekel und Faszination. Velvet Underground sangen etwa noch halb zugedröhnt und sediert von der Morgendämmerung des „Sunday Morning“, der aber auch verheißungsvoll klang. Als Morrissey in den Achtzigern des Thatcherismus das weltschmerzerfüllte „Everyday is like Sunday“ dichtete, glaubte man eher einen Morrisseylike-Klagegesang zu hören. In „Manic Monday“ von den Bangles hingegen ist der Sonntag als positiver Gegenentwurf zum manischen Montag für die Zerstreuung und die Unterhaltung da: „I wish it were Sunday /’cause that’s my fun day“.

Derart positiv wird der Sonntag auch in einem Filmklassiker der frühen Populärkultur dargestellt, dem Stummfilm „Menschen am Sonntag“ (1930) von Billy Wilder, Robert Siodmak und Edgar G. Ulmer. Wilder, später Regiestar in Hollywood, hat das Drehbuch der in Berlin spielenden Handlung geschrieben. Der Schwarz-Weiß-Film ist Sittenbild Berlins in der Spätzeit der Weimarer Republik; ein Werk, das vom Geist der Neuen Sachlichkeit geprägt ist. Im Radialsystem kam nun (fernab der Berlinale) die restaurierte Fassung (1997/98) des in der Originalversion verschollenen Films zu einer besonderen Aufführung: Die isländische Band múm spielte am Wochenende an zwei ausverkauften Abenden live den Soundtrack dazu.

Múm, eine 1997 in Reykjavík gegründete Band, besteht heute als Duo aus dem Experimantalmusiker Örvar Þóreyjarson Smárason und Keyboarder Gunnar Örn Tynes – für das Berliner Projekt haben sie den finnischen Perkussionisten und Electronica-Musiker Samuli Kosminen dabeigehabt. In den vergangenen Jahren hatten múm bereits Sounds zu Sergej Eisensteins „Panzerkreuzer Potemkin“ komponiert und gemeinsam mit dem Düsseldorfer Pianisten und Grenzgänger Hauschka ein Orchesterwerk namens „Drowning“ aufgeführt.

„Menschen am Sonntag“ beginnt schon am Samstag: Straßenbilder eines geschäftigen Sonnabends in Berlin sind zu sehen. Die Protagonisten – Taxifahrer Erwin, Model Annie (seine Freundin), Plattenverkäuferin Brigitte, Weinverkäufer Wolfgang, Komparsin Christl – werden vorgestellt (übrigens sind alle Schauspieler in ihren ersten Rollen zu sehen, und Valeska Gert hat einen Gastauftritt). Sie alle verabreden sich zu einem Sonntagsausflug zum Nikolassee. Dieser Strandausflug an einem windigen Sommertag – dem nur Annie fernbleibt, die den Tag, wohl leicht verkatert, im Bett verbringt – bildet die Haupthandlung. Eigentlich passiert nicht viel: Baden, Tretbootfahren, Neckereien zwischen den Geschlechtern, Wolfgang bandelt mit Brigitte an. Zwischendurch springt die Kamera zu anderen Straßen- oder Parkszenen – viele Familien im Grunewald, Penner auf der Parkbank – oder zurück zu Annie, die im Bett liegt. Bei Wilder ist der Sonntag der Tag des Ruhens, der Erlösung von den Zwängen der Arbeit, des Amüsements und des Freidrehens.

Múm spielen zu diesem fröhlichen Sonntag einen größtenteils reduzierten Soundtrack. Sie leiten mit leisen Keyboardtönen und sachten Beats ein, steigern sich dann zu flächigen, tiefen und lauteren Klängen. Perkussionist Kosminen steuert Klackern und Knistern bei. Die Schlagzeugtöne verfremdet er elektronisch, es entstehen kleinteilige, feinziselierte rhythmische Sounds.

Bei Billy Wilder istder Sonntag der Tag des Amüsementsund des Freidrehens

Smárason hat einen Tapeziertisch voller Midi Controller, Synthesizer und Effekgeräte vor sich und erstellt daraus die voller klingenden Beats. Glücklicherweise spielen múm sich nicht in den Vordergrund, sondern sehen sich, ganz wie die Klavierspieler im frühen Stummfilm, als Begleitmusiker. Das funktioniert gut; so gut, dass man sich die 74 Minuten als Album vorstellen könnte. Das Publikum sieht das genauso – und applaudiert langanhaltend.

Zum Ende des Films, als múm den Abend ausklingen lassen, als es zurück in die Stadt geht, Wolfgang und Brigitte sich einen Abschiedskuss geben und für den nächsten Sonntag zum nächsten Ausflug verabreden, weiß man dann auch, was man an den freien Sonntagen hat. Denn „Menschen am Sonntag“ endet mit folgenden Einblendungen: „Und dann am Montag“ – „wieder Arbeit“, „wieder Alltag“ – „wieder Woche“. Die allerletzte Einstellung besteht aus dem Satz: „4 Millionen warten auf den nächsten Sonntag.“ Angenehmes Warten wünscht: Jens Uthoff