Altersschätzung bei Flüchtlingen: Im Zweifel volljährig

Das Jugendamt erklärt jugendliche Flüchtlinge aufgrund fragwürdiger Polizei-Informationen für volljährig – auch wenn es selbst anderer Meinung ist.

Auch die Wasserprobe kann als Methode der Altersbestimmung dienen Foto: Stiftsbibliothek Lambach/ Wikimedia

BREMEN taz | Mit einer „qualifizierten Inaugenscheinnahme“ sollen MitarbeiterInnen des Bremer Jugendamtes einschätzen, wie alt ein jugendlicher Flüchtling ist – eigentlich. In Wahrheit, sagt Jan Sürig, Anwalt für Migrationsrecht, sei das Jugendamt angehalten, „im Zweifel für die Volljährigkeit“ zu plädieren.

Als Basis dafür diene eine sogenannte „K- 54“- Meldung: Das ist eine Meldung des Kommissariats für Migrationsdelikte, wo bereits polizeilich gespeicherte Daten über den Jugendlichen vermerkt sind. „Die können auf Schätzungen beruhen, auf Angaben, die der Jugendliche gemacht hat oder auch auf Papieren, die er bei sich hatte – was genau den Angaben zu Grunde liegt, ist nicht bekannt, nicht einmal, wer die Angaben gespeichert hat“, sagt Sürig.

Ist ein Jugendlicher laut K-54-Meldung volljährig, „wird das vom Jugendamt so übernommen – auch dann, wenn es selbst zu einem anderen Ergebnis gekommen ist“, sagt Sürig. So heißt es in einem Beschluss des Verwaltungsgerichts Bremen vom 4. Februar, bei der es um eine Jugendliche aus Somalia geht: „Äußere Merkmale, die für die Volljährigkeit (...) sprechen könnten, wurden von den Mitarbeitern des Jugendamtes nicht festgestellt. Nach ihrer Ansicht stimmten das Verhalten und das äußere Erscheinungsbild mit einer 16-Jährigen überein.“ Gleichwohl hätten sie notiert, „dass eine K-54-Rückmeldung abgewartet werden müsse“. Die erklärte das Mädchen für volljährig, woraufhin das Amt für Soziale Dienste die – bei Minderjährigen vorgeschriebene – Inobhutnahme zurücknahm.

Aktuell, berichtet Sürig, habe er mit einem Jugendlichen zu tun, „bei dem selbst die Familienrichterin keine Zweifel daran hatte, dass er nicht älter als 16 ist“. Sie habe einen Vormund für ihn bestellt, „aber es gibt eine K-54-Meldung, die besagt, der Junge ist 18. Nun muss auch hier das Verwaltungsgericht entscheiden“. Und das, sagt er, geschehe stets nach Aktenlage, weil das Gericht in den Eilverfahren die Jugendlichen nie selbst in Augenschein nehme. Vielmehr stütze es sich auf „Argumente“ wie in diesem Schreiben aus der Rechtsabteilung der Sozialbehörde auf einen Antrag von Sürig gegen eine seiner Meinung nach falsche Altersfeststellung: „Die Antragsgegnerin übernimmt das von der erkennungsdienstlichen Behandlung mitgeteilte Geburtsdatum als wahr.“

Dabei, sagt Sürig, gebe es viele Gründe dafür, warum manche Jugendliche während ihrer Flucht Papiere mit falschem Geburtsdatum bei sich führten: „Viele wollen auf der Balkanroute nicht in ein Jugendhilfesystem, über das sie Horrorgeschichten gehört haben.“ Auch sei es für Minderjährige oft schwieriger, Hilfe oder Begleitung während der Flucht zu erhalten, „also tun sie so, als seien sie volljährig“. Es gebe aber auch viele Fälle, in denen niemand wisse, wie die Angaben in der K-54-Meldung zustande gekommen seien.

Zugrunde gelegt wird sie dennoch, und wie man das bei Gericht „verkauft“, dafür gibt es sogar „Handlungsempfehlungen“: In einer Mail an JugendamtsmitarbeiterInnen von Susanne Heyn, Rechtsreferats-Leiterin bei der Sozialsenatorin, heißt es dazu: „Wenn zunächst jemand als Minderjähriger eingeschätzt wird und dann durch polizeiliche Ermittlungen sich herausstellt, dass er älter ist (...), dann muss bei der Rücknahme (...) das Ermessen richtig ausgeübt werden. D. h., es bedarf auch einer Erklärung, warum auch die Behörde nach den polizeilichen Erkenntnissen jetzt doch der Meinung ist, dass jemand volljährig ist. Ich habe es in einem Fall so dargestellt, dass zunächst Zweifel an der Volljährigkeit bestanden und daher vorsorglich in Obhut genommen wurde, aber nach der Mitteilung der POL (...) Zweifel ausräumen konnte und daher „nunmehr“ von Volljährigkeit ausgegangen wird.“

„Befremdlich“ findet auch Bernd Schneider, Sprecher der Sozialsenatorin, Heyns Mail vom 5. Februar. „K 54 sticht“ habe zwar einmal für die Altersfestsetzung gegolten, „aber das Verfahren hat sich geändert: Die Einschätzung der Jugendamtsmitarbeiter ist keinesfalls hinfällig, auch wenn die polizeiliche Meldung etwas anderes aussagt“. Sowohl die Inaugenscheinnahme als auch die Meldung müssten in die abschließende Beurteilung einfließen.

Jan Sürig, Anwalt für Migrationsrecht

„Viele wollen auf der Balkanroute nicht in ein Jugendhilfesystem, über das sie Horrorgeschichten gehört haben“

Minderjährige Flüchtlinge genießen besonderen Schutz: Sie werden vom Jugendamt in Obhut genommen und können nicht einfach abgeschoben werden. Dennoch tauchen viele ab: 156 sind in den vergangenen Monaten allein in Bremen verschwunden, das teilte Sozialstaatsrat Jan Fries in der Stadtbürgerschaft am vergangenen Dienstag mit.

Sürig kennt eine dieser Jugendlichen: „Es handelt sich dabei um ein Mädchen, das für volljährig erklärt wurde, obwohl sie nach eigenen Angaben erst 16 ist.“ Offiziell gelte sie noch als minderjährig, weil die Bestimmung ihres Alters noch nicht rechtskräftig sei. „Es kann sein, dass sie wie viele andere Jugendliche aus Angst vor Umverteilung untergetaucht ist, aber es ist auch möglich, dass sie wegen der Altersfeststellung abgehauen ist“, sagt Sürig.

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