Fliegenschwarm im Museum

Retrospektive Kurt-Schwitters-Preisträger Pierre Huyghe zeigt im Sprengel Museum in Hannover eine feinsinnige Ausstellung über Lebendigkeit, Vergänglichkeit und Zufall

Pierre Huyghe, Untitled, 2011–12, Lebende Wesen und unbelebte Dinge, gemacht und nicht gemacht Foto: Sprengel Museum

von Julia Gwendolyn Schneider

Im dunklen Ausstellungsraum steht eine kleine LED-Maske, auf deren Display blinkende Lichtpunkte kontinuierlich autogenerative Zufallsmuster erzeugen. „Orphan Mask“, wie Pierre Huyghe die Arbeit nennt, lässt sich als Bindeglied zwischen den Werken verstehen, die er Anlässlich seiner Ehrung mit dem Kurt-Schwitters-Preis im Sprengel Museum in Hannover zeigt. Die komplexen bis chaotischen Muster auf der Oberfläche der Maske sind „Orphan Patterns“ (Waisenmuster), die einem Konzept folgen, das sowohl in der Mathematik, der Biologie als auch in der Spieltheorie Verwendung findet und jetzt Huyghes Ausstellung betitelt. Die ursprungslosen Muster wurden in den 60er und 70er Jahren von Mathematikern entdeckt und waren zur Entwicklung zellulärer Automaten und von Computersprache wichtig. In Huyghes Ausstellung symbolisieren sie unkontrollierbare Zufallsmomente, die von Lebendigkeit, Wandel und Verfall zeugen.

In diesem Sinne startet der Preisträger seinen Parcours mit einem flüchtigen Meer aus Farbpigmenten, die den Boden mit grünen, blauen und rosafarbenen Schattierungen überziehen. Hier bemerkt man gleich das Huyghe’sche Prinzip: Alles ist durchdacht, aber auch anarchischer Offenheit überlassen. Wenn die Besucher über den Boden stapfen, entstehen zusehends bunte Schlieren und staubige Spuren, die sich bis auf die dunklen Teppichböden in den angrenzenden Räumen verbreiten. Passenderweise befindet sich die Ausstellung in den bis jetzt noch nicht genutzten Hallen des 2015 fertiggestellten Erweiterungsbaus. Wie mit Blütenstaub wird das jungfräuliche Museum mit den feinen Partikeln vergangener Ausstellungen bestäubt. Die Farbpartikel stammen etwa von den Wänden des Pariser Centre Pompidou, des Museums Ludwig in Köln und des Los Angeles County Museum of Art, von jenen Orten also, an denen Huyghes viel gelobte Retrospektive schon tourte.

Das Huyghe’sche Prinzip: Alles ist durchdacht, aber auch anarchischer Offenheit überlassen

Während sich im Pompidou ein Großteil der Werke zwischen verwinkelten Stellwänden drängte, glänzen die zehn aufeinanderfolgende Räume im Sprengel Museum durch eine äußerst minimale Bespielung, die von Raum zu Raum ihre Intensität ändert. Auf das gleißende Licht im Eingangsbereich folgen Dunkelheit und Leere, bis man plötzlich wieder im Hellen steht und auf ein gänzlich unerwartetes Bild trifft.

Unzählige Schmeißfliegen schwirren durch den White Cube. Ihr kurzes Dasein – ein Lebenszyklus, der nur zwei Wochen durchläuft – vollzieht sich im musealen Raum vor den Augen der Besucher. Aus der Ferne bilden sie unscheinbare schwarze Punkte auf der weißen Wand, sie formieren sich zu dichten Schwärmen, die lästig nahe kommen, und verirren sich auf einsamen Flügen in die benachbarten Räume.

Pierre Huyghe, Untitled (Human Mask), 2014, Film Foto: Sprengel Museum

In Mitten der Fliegen sitzen zwei maskierte Personen. Das blinkende Lichtspiel ihrer Masken wurde so programmiert, dass es Locksignale aussendet mit denen sich biolumineszierende Insekten vor der Paarung anlocken. Der Mann und die Frau mit den „Mating Masks“ spielen mit zwei Bernsteinwürfeln. Der eine Spielstein schließt ein kopulierendes Insektenpaar ein, in dem anderen steckt eine vor vielen Millionen von Jahren geschlüpfte Larve fest. Die „Lebensgeschichte“, von der die Einschlüsse zeugen, setzen die herumschwirrenden Fliegen als lebende Abkömmlinge der längst ausgestorben Spezies gewissermaßen bis in die Gegenwart fort. Über die digitalen Insekten-Masken, die das balzende Paar trägt, bindet Huyghe auch uns Menschen in sein poetisches Netzwerk mit ein, das zwischen Mensch, Tier und Maschine oszilliert und dabei nicht weniger als die großen Themen von Leben und Tod, von Vergänglichkeit, Zufall und Ewigkeit aufwirft.

Der Film „De-Extinction“ setzt die Thematik fort, indem er mit einer speziellen Hightech-Kamera den zufällig präservierten Mikrokosmos für das menschliche Auge sichtbar macht. Auf der großflächigen Leinwand taucht der Blick in eine faszinierende goldgelbe abstrakte Landschaft. Der erstarrtet Mikrokosmos wirkt wie eine Reise durchs All, bis die vielfach vergrößerten Fadenbeine eines kopulierenden Insektenpaars auftauchen. Sie scheinen sich zu bewegen, als wäre ihnen Leben eingehaucht geworden. Blicken wir auf eine reale Welt? Huyghes dokumentarische Perspektive zaubert ein prähumanes, postapokalyptisches Universum voller Ambivalenzen zum Vorschein. Geradezu verschmitzt wird der Wandel an der Schwelle von Realität und Fiktion dann am Ende des Ausstellungsparcours. Hier erklärt der Künstler eine Lithografie von Kurt Schwitters aus dem Jahr 1923 zum konzeptuellen Grundriss seiner Ausstellung, der sich, mit etwas Fantasie, tatsächlich in den schwarz-weißen Elementen des konstruktivistischen Werks erkennen lässt.

Bis 24. April, Sprengel Museum Hannover