HörbücherHanns Zischler liest Henry James, Kurt Schwitters zwitschert seine Ursonate: zwei Publikationen, mit denen sich hundertste Jubiläen begehen lassen
: Beim Lesen muss man Fantasie haben

Die psychologisch einfühlsame Gestaltung seiner Frauenfiguren ist ein markantes Merkmal im Werk von Henry James, dessen Todestag sich am 28. Februar zum 100. Mal jährt. Der 1843 in New York geborene Autor lebte ab 1875 in Europa und wurde später sogar britischer Staatsbürger. Frauen porträtierte er vor allem vor dem Hintergrund dieses seines anderen großen Themas: dem Gegensatz der Lebensführung in Europa und Amerika. Seine intelligenten und aktiven Frauenfiguren werden im Drehkreuz von Tradition und moderner Lebensgestaltung zermalmt, oder unüberwindbare Klassenschranken zwingen sie zum Stillstand.

In der 1898 erschienenen Novelle „Im Käfig“ lässt James eine namenlose Telegrafistin, deren vergitterter Arbeitsplatz in einem Londoner Gemischtwarenladen mit integrierter Post einerseits Käfig und andererseits Schutzraum ist, am Leben der Oberschicht teilnehmen. Dafür hat er den Bewusstseinsstrom gewählt, stellt die Charaktere in den Vordergrund. Das Fehlen eines engmaschigen Plots ist beim Hören der Lesung zunächst eine Herausforderung, doch mit der Gewöhnung an die überbordenden Satzkonstrukte setzt schnell das Hörvergnügen ein.

Aus den Nachrichten, die die feinen Leute versenden, kons­truiert sich die Telegrafistin ihre Wahrheit über deren Leben. Insbesondere über das des Captain Everard. Mit entwaffnender Offenheit lässt James seine lebensschlaue Protagonistin sich dem Captain nähern, wobei James immer klarmacht, dass sie nie vergisst, wohin sie gehört.

James hat dem Gedankenfluss der Protagonistin einen Erzähler vorgeschaltet, der dem Text mit Anreden wie „Unsere Freundin“ eine paternalistische Färbung verleiht. Hanns Zischler, dessen Stimme grundsätzlich in Alter und Färbung gut mit dem Text harmoniert, übernimmt in seiner Lesung über weite Strecken diesen väterlichen Blickwinkel, übertreibt es aber leider, indem er zu viel Ironie mitschwingen lässt. Das lenkt ab. Erst als die junge Frau den Captain im Park trifft und erkennt, dass das Zusammengereimte nicht deckungsgleich ist mit der Realität, liest Zischler nüchtern und mit gebührendem Respekt – den er „Im Käfig“ auch in einem Kommentar im Booklet zollt. Ein interessantes Feature ist ein ebenfalls im Booklet enthaltener Essay von Gilles Deleuze und Félix Guattari über Grenzen und Entgrenzungen in „Im Käfig“. (Henry James: „Im Käfig“, der Hörverlag, 4 CDs, ca. 4 h 40 Min.)

Auch wenn Dada schon da war, bevor Dada da war: Aktenkundig wurde er mit der Gründung des Cabaret Voltaire vor 100 Jahren. Nach allem, was in den vergangenen Wochen dazu zu sehen und zu lesen war, auch über die Einflüsse, die Dada auf die Musik genommen hat, liegt die Beschäftigung mit einem Originaltondokument nahe: Die „Ursonate“ von Kurt Schwitters ist ein Lautgedicht, in seiner Struktur einer Sonate nachempfunden. Die vorliegende Aufnahme ist laut Verlag eine „original Performance by Kurt Schwitters“, es gibt aber auch Quellen, die seinen Sohn Ernst als Interpreten nennen.

Schwitters hörte 1921 auf einer gemeinsamen Prag-Reise ein phonetisches Gedicht von Raoul Hausmann, dem Erfinder des Genres. Die daraufhin verfasste „Ursonate“ entwickelte er immer weiter, bis sie 1932 ihre endgültige Form hatte. Es ist eine Anein­anderreihung von Konsonanten und Vokalen, mal fragend, mal ausrufend, kreischend oder flüsternd, immer rhythmisch. Oft erinnern die Laute an Vogelgezwitscher. Heute so vertraute Wortkompositionen wie „Klimbim“ tauchen auf. Das Abc wird durchdekliniert, mal vorwärts, mal rückwärts. Im Booklet wird Schwitters zitiert: „man muss wie bei jedem lesen fantasie haben, wenn man richtig lesen will. der lesende muss selber ernst arbeiten, wenn er wirklich lesen lernen will. […] besser als zu lesen ist die sonate zu hören.“ Der Abdruck eines Auszugs aus der Sonate bestätigt beides. (Kurt Schwitters: „Ursonate“, Wergo, ca. 42 Min.)

Sylvia Prahl