Theater Was sich der Lust immer in den Weg stellt: Das Performence-Kollektiv She She Pop inszeniert „50 Grades of Shame“ in den Münchner Kammerspielen
: Verliebt in fragwürdige Körper

Im Kabinett der Chimären: She She Pop kombinieren die Körper Foto: Judith Buss

von Katrin Bettina Müller

Kurz bevor es losgeht mit She She Pops erster Premiere in den Münchner Kammerspielen unterhalten sich einige Damen in der Warteschlange auf der Toilette über Matthias Lilienthal, Leiter des Hauses seit dieser Spielzeit. „Der Intendant, dass der immer so schlampert rumläuft, das senkt schon das Niveau am Haus“, meint eine Dame in Grün. Ja, sie habe, erklärt eine Freundin, selbst heute nicht mehr ihr kleines Schwarzes in Erwägung gezogen. Ah, um die Kleiderordnung des Publikums geht es also. Die ist heute kaum noch ein Grund für Scham, und das ist gut so.

Um Scham dreht sich alles in der neuen Produktion von She She Pop, „50 Grades of ­Shame“. Und um Kleiderordnung, nämlich eine Rocklänge geht es gleich zu Anfang, mit einem Text aus Frank Wedekinds „Frühlings Erwachen“. Das Mädchen Wendla will seine Beine nicht verstecken, die Mutter den Saum aber länger machen, weil sie doch nun 14 Jahre alt wird. Ein älterer Schauspieler, Gundars Āboliņš von den Münchner Kammerspielen, liest den 125 Jahre alten Text an einem Pult, das seinen Körper verdeckt. Derweil posieren Mitglieder des She-She-Pop-Kollektivs und jüngere Schauspieler im Bühnenhintergrund, entblößen mal die Beine, mal die Brust oder den Popo. Das alles wird von Kameras eingefangen und neu montiert. Auf einer großen Leinwand redet nun Āboliņš’ Kopf, während Torso, Unterkörper und Beine zu anderen Schauspielern gehören.

Wedekinds Traurigkeit

Was zwischen den Textzeilen, die noch von einem rührend braven Kampf gegen eine enge Begrenzung des körperlichen Spielraums geprägt sind, und den Bildern, die von der Freizügigkeit, aber auch von den Anstrengungen des Konkurrierens und der Überbietung in der Gegenwart erzählen, ins Spiel kommt, ist eine lange Geschichte. Sie handelt von veränderten Normen, von Aufklärung, von neuen Forderungen, sich in der Sexualität darzustellen. E. L. James’ Bestseller „50 Shades of Grey“, ein sadomasochistisches Erweckungsdrama, markiert dabei den Gegenpol zu Wedekind. Auf der weiten Skala dazwischen bauen She She Pop und die Schauspieler der Kammerspiele einen Bilderbogen der Chimären.

Was Hannah Höch, die große Dadaistin, einst mit Schere und Klebstoff begann, nämlich Männlich und Weiblich im Bild zu durchmischen, erfährt in diesem Bilderbogen seine permanente Fortsetzung, Gender Bender, Transgression. Der Abend ist in Lektionen unterteilt, Frontalunterricht und Rollenspiele, die kurzweilig und aus einer immer wieder veränderten Per­spek­tive auf Sexualität und Zuschreibungen schauen. Lilli Biedermann, eine sehr junge Frau, die als „16-jähriger Teenager“ mit eigener Pubertätsexpertise vorgestellt wurde, nimmt sich zum Beispiel der Rolle des dominanten Liebhabers aus „50 ­Shades of Grey“ an, Bilder skizzieren ihre Verwandlung, aber alles bleibt sehr distanziert, kühl betrachtet. Die Inszenierung von She She Pop unterläuft alle Muster von Obszönität, vom Haschen nach der Sensation, von der Steigerung der Erregbarkeit. Sie bleibt eine angenehm altmodische Veranstaltung.

Und doch, wer mehr von She She Pop, dem 1998 gegründeten Frauen-Performance-­Kollektiv, kennt, weiß, dass sie es besser können. Ihre Stücke sind ja nie nur Theater, sondern immer auch angewandte Theaterwissenschaft, ein Vorzeigen und Untersuchen des Materials. Sie haben klassische Theaterstoffe, wie Shakespeares „King Lear“, mit einem Befragen der eigenen Biografien auf sehr erhellende Art zusammengebracht, dabei subtile, kritische und liebevolle Porträts der eigenen Generation und der ihrer Eltern entwickelt. Das war auch eine selbstkritische Befragung nach der Verwirklichung von emanzipatorischen Idealen.

In „50 Grades of Shame“ sind oft die Szenen, die sie aus einem einfachen Frage-Antwort-Spiel, etwa zum One-Night-Stand, oder aus der Aufzählung von Verboten entwickeln, inhaltlich anregungsreicher als das, was sie aus den literarischen Vorlagen machen. Von Wedekinds Kampf gegen ein repressives Erziehungssystem, das für seine jugendlichen Protagonisten tödlich endet, bleibt wenig. Seine Traurigkeit ist kaum wiederzuerkennen. Auch auf James’ pornografischen Bestseller haben die Darsteller im Grunde keine Lust; seine Version von der freiwilligen Unterordnung der Frau unter die männliche Dominanz ist schnell verhandelt. Was sich aber heute der Lust immer wieder in den Weg stellt, welche Forderungen das Annehmen des eigenen Körpers belasten, das wird immer nur sehr kurz angerissen. Solches aber erfahrbar zu machen, über verschiedene Sinne und den Verstand, ist eigentlich eine Kernkompetenz von She She Pop.

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Was Hannah Höch, die große Dadaistin, einst mit Schere und Klebstoff begann, nämlich Männlich und Weiblich im Bild zu durchmischen, erfährt in diesem Bilderbogen seine Fortsetzung, Gender Bender, Transgression

Vielleicht liegen die Mängel in einer zu großen Verliebtheit in die Erzeugung der chimärischen Bilder, der zweifelhaften und nicht definierbaren Körper. Ständig sind alle damit beschäftigt, den bilderzeugenden Apparat zu füttern, einzelne Körperteile vor die Kamera zu halten, andere schwarz zu maskieren und unsichtbar zu machen. Was man nicht sieht, was hinter schwarzem Tuch verborgen ist, durchzieht die Inszenierung wie ein Subtext. Aber während sie sonst, etwa in „Frühlingsopfer“, einem Stück über Mütter und deren Rollen, gerade auch dem Nichtausgesprochenen scharfkantige Konturen geben, bleibt das Weggeblendete hier eine ungenutzte Brache.

An den Münchner Kammerspielen ist dies die erste Inszenierung, die das Performancekollektiv mit Schauspielern des Ensembles zusammen entwickelt hat, und insofern auch eine Probe aufs Exempel. Denn es gehört zum Plan des Intendanten Matthias Lilienthal, die unterschiedlichen Strukturen von Stadt- und Ensembletheater mit denen freier Kollektive zusammenzubringen.

Auf der Bühne in München ist zwischen deren Präsenz und etwa der von Walter Hess, Anna Drexler und Christian Löber ein Unterschied auszumachen. Es verblüfft immer wieder, wie sich die Gesichter der Schauspieler zu den fremden Körperteilen ins Verhältnis setzen. In den gemeinsamen Spielweisen steckt noch viel Musik.