Panorama Ein Buch der Anteilnahme: Roland Schimmelpfennigs „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“
: Aufbrüche in die Kälte

Auch die Erzählung selbst streunt: Berlin an einem klaren, kalten Januartag dieses Jahres Foto: Jens Kalaene/dpa

von Katrin Bettina Müller

Von zu Hause weglaufen, weil die Mutter trinkt und zuschlägt. Durch den Wald. Nichts zu essen haben. Zwei Kinder, die sich in der Kälte nicht trauen, ein Feuer zu machen. So beginnen Märchen. Da ist auch ein Wolf unterwegs, hungrig im Winter. Er ist allein, so allein wie der Junge und das Mädchen. Auf die Stadt bewegen sie sich zu, alle drei. Die Stadt heißt Berlin.

Die Bewegung des Streunens, die Unruhe, ein Aufbruch, der ohne Ankunft ist: Von Anfang an ist das da in Roland Schimmelpfennigs Roman „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts“, der für den Leipziger Buchpreis nominiert ist. Die Erzählung selbst streunt, hungrig nach Geschichten, vom Dorf im Oderbruch in die Stadt hinein. Alle paar Seiten wechselt der Schauplatz, kurz und präzise erleuchtet, dann blättert man um, schon treten neue Protagonisten auf den Plan. Man liest das erst wie ein Hüpfen von Insel zu Insel, hier der tote Jäger unter dem Hochsitz, da der frierende Tomasz in seinem Auto im Stau, hier die frierenden alten Leute in dem sonst entmieteten Haus, da die Kinder im Wald, hier der Wolf auf seinem Weg, da ein junges Paar, das einen Kiosk in Prenzlauer Berg betreibt. Bald entsteht aus den Erzählflecken eine Topografie, Wege, Straßen, Bahntrassen verbinden das Land und die Stadt, schließlich überschneiden sie sich.

Auf der Suche sind sie alle: Charly aus dem Kiosk sucht den Wolf, Tomasz, der polnische Spezialist für Abbrucharbeiten, seine Freundin, die Kinder einen verschwundenen Icke in dem Abrisshaus in der Lychener Straße, der Vater des Jungen seinen Sohn. Das treibt den Roman voran, aber auch hinein in Geschichten, wie es dazu kam. Und schließlich hat man ein Buch in der Hand über Veränderung und die Angst, die sie auslöst. Weil nicht mehr sicher ist, wer einem hilft und einen beschützt, nicht mal für die Kinder; nicht sicher, wovon man leben wird, ob man noch einen Platz hat, an den man gehört. Lebensentwürfe, am Ende gleich von mehreren Generationen aus Ost- und Westberlin, fallen in kleinen Bröseln aus den Seiten.

Vor ein paar Jahren, 2011, erschien von Annett Gröschner ein Roman, „Walpurgistag“, der ähnlich durch Berlin streunte, sich an die Fersen von Schulschwänzern, Wohnungslosen, Trinkern und Alleinerziehenden heftete und sich zu einem Panorama der Stadt verdichtete. Beide Romane erzeugen beim Lesen ein Bild vom Erzählenden, nicht am Schreibtisch an seinen Figuren feilend, sondern mit der Tarnkappe in der Stadt unterwegs, zuhörend vor allem denen, die keinen zum Reden haben und nach Sprache suchend für die, die schon stumm geworden sind in der Isolation. Wie Tomasz, der polnische Bauarbeiter, dessen innere Monologe nie eine äußere Entsprechung finden.

Das hat eine Haltung zum Leben, die von großer Anteilnahme geprägt ist. Ganz nah bei den Figuren beginnt Schimmelpfennig zu erzählen, beschreibt Situationen, man sieht das oft fast schon wie einen Film vor Augen. Aber so wie der Wolf, der in die Stadt läuft, einem anderen Rhythmus folgt als die Menschen, sind die einzelnen Episoden unterlegt mit einem zweiten Blick auf die Zeit, die Geschichte, die Entwicklung. Oder wie mit einer Tonspur, die von der Lautlosigkeit der Bewegung des Wolfs im Schnee bestimmt ist und die Präsenz von etwas markiert, das man nie zu fassen bekommt.

Ein Wolf, oder ein Mädchen, das einige für einen Wolf hielten, wanderte vor mehr als zehn Jahren schon durch einen Theatertext von Schimmelpfennig, „Auf der Greifswalder Straße“, auch da eine Figur, um die Perspektive zu wechseln, aus anderer Distanz auf die Erzählung vom Umbruch und den Verlusten der Nachwendezeit zu blicken. Als Dramatiker ist Roland Schimmelpfennig, geboren 1964, sehr bekannt. Er steht für eine Erzählweise auf der Bühne, in der neben dem Dramatischen auch epische Formen mitlaufen, die Figuren nicht immer festgelegt sind und die Schauspieler die Arbeit der Vorstellungskraft nicht nur ausüben, sondern deren Instrumente vorzeigen. Thematisch hat er sich oft mit Geschichten von Migration und Globalisierung befasst und dabei nach sprachlichen Formen gesucht, die nicht von behauptetem Wissen ausgehen, sondern von Annahmen und Fragen. Das öffnet den Rahmen weit für die Schauspieler, im Zugriff auf die Figuren auch das Konzept Theater und das Konstrukt Identität mit zu reflektieren.

Jetzt dagegen einen Roman von Schimmelpfennig zu lesen, bei dessen Lektüre die eigene Vorstellungskraft ungefiltert ans Werk gehen darf, ohne theoretischen Überbau, ist eine schöne Leseerfahrung. So anschaulich und plastisch ist seine Sprache, man will und braucht gar keine zusätzlichen Bilder. Der Sog, den die Szenen entwickeln, hat zwar viel von der Dynamik des Unausweichlichen, die oft, auf leisen Sohlen und erst unerkannt angeschlichen, auch sein dramatisches Personal ergreift. Aber schon das waren Momente, in denen die Sprache von der Bühne abhob und man sich am liebsten mit geschlossenen Augen ihren driftenden Bildern überlassen hat.

Roland Schimmelpfennig: „An einem klaren, eiskalten Januarmorgen“. Fischer, Frankfurt am Main, 256 Seiten, 19,99 Euro