Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse

SZENE WEST Sunshine trifft Karl Lagerfeld, die Genialen Dilletanten treiben Unfug im piefigen Westberlin. In „Subkultur Westberlin 1979–1989“ erzählt Wolfgang Müller, was im Exil, im Risiko und im Anderen Ufer los war und was es zu bedeuten hat. Ein Auszug

■ „Subkultur Westberlin 1979–1989“ ist in der Fundus-Reihe von Philo Fine Arts erschienen und kostet 24 Euro. Auf 600 Seiten arrangiert Wolfgang Müller Anekdoten aus dem alten Westberlin zu einem Sittengemälde der Mauerstadt/West, wo Punk und Kunst, queere Kultur und Politaktivismus fließend ineinander übergehen. Müller lässt Akteure zu Wort kommen, erzählt die Geschichte der Tödlichen Doris und analysiert die Strategien der Genialen Dilletanten. Ein künftiges Standardwerk, schon heute unverzichtbar. (gut)

VON WOLFGANG MÜLLER

Im Sommer 1977 eröffnet das Funkhouse am Kurfürstendamm. Westberlin – Funky Town? Ein kapitaler Flop. Das Lokal läuft schlecht. Der Inhaber erkennt die Zeichen der Zeit. Eine kleine Buchstabenauswechslung hat große Folgen: Aus dem Funkhouse wird das Punkhouse. Und dieses Punkhouse entwickelt sich nun zum ersten Treffpunkt einer gerade erst im Entstehen begriffenen Westberliner Punkszene.

Etwa zweihundert in allen Bezirken lebende Punks und eine kleine Szene sogenannter Fashion-Punks existieren in der Halbstadt. Zu den ersten Kellnern, die ab 1978 im Punkhouse arbeiten, zählt Mark Eins. Im Jahr zuvor hat er noch mit einem Frachter die Meere erkundet. In seiner Geburtsstadt Flensburg hat er die experimentelle Elektronikband DIN A Testbild gegründet. In Westberlin lernt er Gudrun Gut kennen. Diese hat zufällig zur gleichen Zeit in einem Keller der Friedenauer Sponholzstraße eine Frauenband namens DIN A4 gegründet. „Wir taten uns zusammen, ließen die Zahl 4 weg und nannten uns DIN A Testbild.“ Nach Auftritten im Kreuzberger SO36 und im Düsseldorfer Ratinger Hof trennen sich ihre Wege. Mark Eins: „Gudrun wollte lieber was mit anderen Frauen machen.“ Zuvor organisiert Gudrun Gut ein Konzert mit Blixa Bargeld in der Diskothek Moon – er hat sich gerade von seinen langen, grün gefärbten Haaren getrennt, die an den proto-queeren Orten wie Anderes Ufer oder Tali-Kino den großen Einfluss des Glam-Rock bezeugten.

Das Moon-Konzert findet am 1. April 1980 statt und gilt als offizielles Gründungsdatum der Einstürzenden Neubauten. Weitere Beteiligte sind Beate Bartel und Andrew Unruh. Kurz darauf formiert Gudrun Gut mit Bettina Köster und Beate Bartel die Band Mania D, in der freejazzige Elemente auf New Wave treffen. Mania D ist die Vorläuferband der aus Musikerinnen bestehenden Gruppe Malaria! – zu deren Name das Ausrufezeichen gehört.

Musiker Thomas Voburka, der Kellner aus dem Kreuzberger Exil, zählt zu den häufigen Besuchern des Punkhouse: „Die Jungpunks waren alles Gymnasiasten aus gutem Hause – zumindest die, die man in der Öffentlichkeit sah. Die Jungs haben sich im Kant-Kino mit gestandenen AC/DC-Altrockern ‚geprügelt‘ – was ziemlich komisch aussah. In Kreuzberg gab es damals gar keine Punks. Zumindest waren sie nicht zu sehen. Kreuzberg befand sich damals in der Hand von Spontis und Polit-Anarchos rund um das Georg-von-Rauch-Haus. Es gab auch noch keine Punkkneipen, nur so wirklich gruselige Alt-68er-Spelunken wie das Max und Moritz in der Oranienstraße und die Rote Harfe am Heinrichplatz.“

Im Tagebuch der Prä-Punkerin Betti Moser, die heute in England lebt, findet sich der Eintrag: „2. September 1978 Schließung des Punkhouse.“ Sieben Monate später, am 21. April 1979, eröffnet das Shizzo, das zweite Punklokal Westberlins überhaupt – im Stadtteil Steglitz. Tatsächlich strömen in die winzige Kneipe sofort alle über die ganze Stadthälfte verstreut lebenden Punks. Das Shizzo wird nun einige Monate lang das einzige Westberliner Punklokal sein. Der Kaffee wird hier in langstieligen gläsernen Eisbechern serviert. Meist sind sie leicht angesprungen, ernste Verletzungsgefahr droht. Die Einrichtung besteht aus fleißig zusammengetragenem Sperrmüll und liebevoll, aber doch recht fragil Selbstgezimmertem.

Zu den ersten Gästen des Shizzo zählt Dagmar Stenschke, in der Szene bekannt unter dem Namen „Sunshine“. Hektisch und wild wirbelt sie im Lokal herum. Über ihren dünnen Beinen trägt sie schwarze Strumpfhosen mit großen Löchern und einen kurzen Minirock aus schwarzem Leder. In ihrem Haar blinken glitzernde Fundstücke, die sie dort eingeflochten hat. Sunshine schlenkert mit ihren dünnen Armen. Unzählige glitzernde und grellfarbene Armringe geben klackernde, metallische Geräusche von sich. Einige Punks mutmaßen, sie sei „auf einem LSD-Trip“ hängen geblieben. Sunshine selbst erzählt, sie sei über ein Jahr lang gegen ihren Willen in der Kieler Psychiatrie festgehalten worden. Schnell wird deutlich, dass sie ihre Umgebung genau registriert. Die Anwesenheit der immer allein Auftauchenden gilt als Qualitätsprädikat jedes neu eröffneten Clubs, jeder neuen Kneipe oder Diskothek. Wie aus dem Nichts erscheint Sunshine zu den jeweiligen Eröffnungen. Das bedeutet: Das Lokal ist richtig gut, angenehm, hat irgendetwas Spezielles. Das Shizzo schließt nach wenigen Monaten. War es das Gewerbeamt oder die Gesundheitsbehörde, die Ärger machte? Die Karawane zieht weiter, Richtung Chaos.

Lagerfeld trifft Sunshine

Selbst der Modedesigner Karl Lagerfeld lernt Sunshine kennen. Von einer Zusammenarbeit zwischen beiden zu sprechen wäre sicher übertrieben, aber es kommt durchaus zu einem konstruktiven Zusammenwirken. Als Lagerfeld eine Fotoserie mit Claudia Schiffer und Zazie de Paris im Kumpelnest 3000 plant und nach dem Mietpreis des Lokals fragt, wehrt Inhaber Mark Ernestus zunächst ab. Er vermiete sein Lokal grundsätzlich nicht, egal welcher Preis auch immer dafür geboten werde. Natürlich sei es kein Problem, wenn Karl Lagerfeld dort trotzdem arbeiten wolle. Der Modeschöpfer sagt zu, bittet Mark Ernestus jedoch eindringlich darum, die Presse nicht über das geplante Fotoshooting zu informieren. Es würde sonst überlaufen von Presseleuten und Neugierigen, seine Arbeit würde gestört. Das Versprechen gilt, nur die Abend- und Nachtschicht des Lokals, Gunter Trube, Käthe Kruse und Wolfgang Müller, sind eingeweiht.

Am vereinbarten Tag hält um 19 Uhr ein großes Cateringauto vor dem Lokal. Karl Lagerfeld betritt mit seiner Entourage das Lokal, in dem rund zwanzig völlig überraschte Zufallsgäste sitzen. Freundlich geht er auf jeden Einzelnen zu, schüttelt ihm oder ihr die Hand und fragt, ob wohl Lust bestehe, an seinem Fotoshooting teilzunehmen. Präpariert im Drag-Queen-Outfit, erwartet Barmann Gunter Trube den Modestar. Karl Lagerfeld fragt Gunter, ob er eventuell Lust habe, sich als Solist am Fotoshooting zu beteiligen. Gunter Trube antwortet in Gebärdensprache (DGS), er habe nichts verstanden. Lagerfeld fragt den neben Gunter sitzenden Wolfgang Müller, welche Sprache Gunter Trube spreche, und bittet um eine Übersetzung. Für die Zufallsgäste hat er schwarze Masken mitgebracht. Auf diese Weise neutralisiert Lagerfeld das Publikum und bindet es in sein Konzept ein. Einzig Sunshine ignoriert das Geschehen. Wie immer sitzt sie auf dem durchgewetzten Sessel allein in der Mitte des Lokals, unmaskiert. Neben ihr, am Boden, steht die Zwei-Liter-Rotweinflasche, die sie mitgebracht hat. Deutlich vernehmbar zischt sie in Richtung Lagerfeld: „Geh doch wieder nach Paris!“, kichert anschließend und schlenkert ihre goldreifbehängten Arme in die Höhe. Lagerfelds Assistentinnen zucken nervös zusammen, er selbst instruiert ungerührt seine Models.

Claudia Schiffer stellt sich breitbeinig mit dem Rücken zum Tresen, die Maskenträger positionieren sich rechts und links von ihr. Nach zwei Stunden kommt es zwischen Sunshine und Karl Lagerfeld zur Kooperation: „Dürfte ich wohl um ein Glas von Ihrem Rotwein bitten?“, fragt der Modezar. Sunshine weist mit dem Arm in Richtung Flasche: „Jaja, nimm, lang zu!“ Lagerfeld bittet den Barmann um ein leeres Weinglas, füllt es mit Sunshines Rotwein. Dann stellt der Modeschöpfer das gefüllte Glas auf den kleinen Tresen zur Küche. Dahinter lanciert er eines seiner Models – einen bildhübschen Franzosen. Während der folgenden Aufnahmen starrt der an dem Fusel nippende Adonis etwas irritiert in Richtung Sunshine. Sie schaut interessiert zurück. Entspannt auf dem Sofa sitzend, beobachtet sie die Szenerie, kichert und wirkt sehr zufrieden mit der Situation. Selbst ein schnorrender Modezar und sein bezaubernder Adonis finden einen Platz in Sunshines großem Kosmos.

Blocksberg

Hinter den S-Bahn-Brücken, an der Grenze zwischen Kreuzberg und Schöneberg, liegt der Blocksberg. Der Blocksberg ist eine alternative Lesbenkneipe. Ausschließlich Frauen ist der Zutritt gestattet. Zu den Gästen zählt auch die Schauspielerin Tabea Blumenschein. Durch Ulrike Ottingers Film „Bildnis einer Trinkerin“ (D 1977) wird sie zum Star des glamourösen Spektrums der Westberliner Lesbenszene. Im Interview mit der Zeitschrift Filmkritik lästert Tabea Blumenschein: Diese alternativen Lesben, mit den lila Latzhosen und Kurzhaarfrisuren, gingen ihr fürchterlich auf den Senkel. Immer müsse sie denen erklären, dass sie sich nicht deshalb schminke oder schön anziehe, um Männern zu gefallen. Sie ziehe sich doch deshalb keine Jutesäcke oder lila Latzhosen an, um den Männern zu missfallen, wie Alice Schwarzer. Sie sei schließlich an Frauen interessiert. Deshalb mache sie sich für andere Frauen oder für sich selbst schön, nicht aber für Männer hässlich.

Um 1981 steigen einige Betreiberinnen aus dem Blocksberg-Kollektiv aus, von der alten Crew bleiben nur Monika Geiser und die Krankenpflegerin und Saxofonistin Stefanie. Ihnen schließt sich bald Artur Dorsch an. Sie benennen den Blocksberg um in Risiko. Zu den ersten Gästen zählen die Crew von Teufelsberg, eine Super-8-Filmgruppe, Jörg Buttgereit und die Szene um Die Tödliche Doris.

Risiko

Was für ein kindischer Name: „Risiko“. Perfekt geeignet für eine öde ZDF-Quizshow am frühen Nachmittag. Und dennoch, die Atmosphäre in diesem Lokal ist einzigartig. Sogar am Nachmittag hat das Risiko geöffnet. Irgendwann bieten die Punkerinnen sogar Essen an: Kartoffelsalat mit Würstchen. Die Gäste müssen zunächst vorne am Tresen bezahlen, dann einen selbst gestalteten Bon im Hinterzimmer entgegennehmen, diesen vorne wieder abstempeln lassen und auf das karge Mahl warten. Die Anregung zu dieser umständlichen Prozedur entstamme, so der Kartoffelsalatkoch, der DDR-Gastronomie. Immerhin darf laut gelacht werden.

Im Risiko musizieren die Einstürzenden Neubauten und Die Tödliche Doris erstmals gemeinsam: Im Hinterzimmer des Lokals führen sie die Wassermusik auf: Flundern, Heringe und Makrelen fliegen durch die Luft, Wasser aus Badewannen schwappt auf den Boden, das Publikum kreischt entsetzt. Drei algenumkränzte Nixen steigen mit ihren Schollen-BHs auf eine Leiter. In einer großen Emaillewanne, die er vom Sperrmüll beschafft hat, verrenkt sich der gefesselte Andrew Unruh. Rotwein und Wasser spritzen hoch. Aufrecht durch das nasse, übelriechende Chaos schreitet der spindeldürre Blixa Bargeld in einem zusammengetackerten und mit Büroheftklammern verstärkten Gummianzug. Über seinem Bauch spannt sich eine Art Binde aus Gummi. Daran befinden sich zwei dicke Metallringe, von denen Lederriemen ausgehen. In einer raffinierten Schamabschnürung laufen diese zwischen seinen Schenkeln zusammen und vereinen sich dort. Einige Frauen finden das Kostüm extrem erotisierend, andere nehmen das glatte Gegenteil wahr – eine Art Keuschheitsgürtel. Bitte nicht berühren! Hin und wieder flüstert Blixa ausgewählten Gästen Losungen ins Ohr. Die nach neun Monaten Gefängnis aus der DDR in den Westen entlassene Dresdnerin Dagmar Dimitroff ruft zur Revolte auf, derweil Wolfgang Müller seinen nackten Körper in einer gelben Plastikwanne kühlt. Sie stammt aus seiner gänzlich badlosen Wohnung mit Kohleheizung.