Besuch im Cern: Ein utopischer Ort

Der weltgrößte Teilchenbeschleuniger Cern geht wieder in Betrieb. Was hier erforscht wird, verändert unser Bild von der Welt.

Drei Menschen mit grünen Schutzhelmen schauen in eine große Maschine

Irgendwo da unten ist die Zukunft. Und die Vergangenheit auch Foto: Imago/GranAngular

GENF taz | Es gibt einen Ort, an dem nichts ist, wie es ist. In der Zeitspannen von Bedeutung sind, die so kurz sind, dass ein Augenblick eine Ewigkeit ist. Oder so ewig, dass ein Menschenleben nur ein Augenblick ist. Ein Ort, an dem oben und unten irrelevant sind und vorher und nachher biegsam. Dieser Ort ist: hier und jetzt. Man muss nur genau genug hinschauen. Und wegen aggressiver Primaten höllisch aufpassen.

„Nehmen Sie sich vor den radioaktiv verseuchten Affen in Acht“, sagt Paul Laycock, als sich 100 Meter unter der Erde, im Zentralmassiv der französischen Alpen, eine massige Aufzugtür öffnet. Dahinter befindet sich eine der komplexesten Maschinen, die Menschen jemals konstruiert haben. Laycock, Experimentalphysiker von der Universität Liverpool, ist zuständig dafür, das Universum zu verstehen, das diese Maschine erzeugt. Atlas heißt sie. Wie der Titan, der die Welt auf den Schulter trägt. Heute trägt der Atlas die Welt in sich.

Wir befinden uns am Cern, dem weltweit größten Forschungszentrum für Teilchenphysik in Genf. Was hier passiert, ist ein Menschheitsprojekt. Die Institute, die mit den Daten des Cern arbeiten, sind auf der ganzen Welt verteilt. Über 10.000 Forscher aus 84 Länder arbeiten daran. Der Ort steht für Hoffnungen, Urängste, für die Grenzen von Erkenntnis und Wissenschaft – und für eine politische Utopie der Freiheit des Denkens.

Was am Cern geforscht wird, ist den meisten Erdenbürgern unverständlich. Die Termini klingen nach Science-Fiction, die Fragestellung scheint simpel: Woraus besteht das Universum und wie funktioniert es? An über zwei Dutzend Experimenten untersuchen Wissenschaftler beispielsweise die Eigenschaften von Antimaterie oder suchen nach Dunkler Materie.

Gigantisches Teilchenpuzzle

Herzstück ist der Large Hadron Collider, kurz LHC, der leistungsstärkste Teilchenbeschleuniger der Welt. Der LHC nimmt im April seinen Betrieb wieder auf, nach vier Monaten Wartung. Dann wollen die Forscher herausfinden, ob sie die nächste Revolution des physikalischen Weltbilds bereits entdeckt haben: ein neues Teilchen.

Es wäre der größte Triumph seit 2012, als sie am Cern das Higgs-Teilchen aufschnappten, das letzte fehlende Stück im sogenannten Standardmodell der Teilchenphysik: Eine Theorie, die alle 17 Elementarteilchen beschreibt, aus denen die uns bekannte Materie aufgebaut ist. Quarks zählen dazu, aus denen Atomkerne aufgebaut sind, das Elektron gehört dazu oder das Photon, das unter anderem Licht oder unsere Handystrahlung bildet. Das Higgs-Teilchen war das letzte Puzzleteil, es soll allem und jedem die Masse verleihen.

Wäre Cern eine Kathedrale, würde der Bischof versuchen zu beweisen, dass Gott nicht existiert

Nein, es gibt keine radioaktiven Affen. Paul Laycock hat die ganze Aufzugfahrt nach lustigen Anekdoten gesucht. Er wollte den Besucher nicht enttäuschen, deshalb hat er sich das mit den Affen ausgedacht. Physikerhumor. Im Angebot hat er aber die Geschichte mit dem Schwarzen Loch.

Ein deutscher Biochemiker versuchte 2008 per Gerichtsbeschluss zu verhindern, dass der LHC wieder in Betrieb geht. Er fürchtete, der Beschleuniger könnte versehentlich ein Schwarzes Loch erzeugen, das die Erde verschlingt. „Ein Schwarzes Loch wäre toll“, sagt Laycock, „wir suchen nach so etwas.“ Es wäre kleiner als ein Atom und würde sich augenblicklich selbst vernichten. Laycock versichert, dass hier niemand verschlungen wird. Gelegentlich beten noch ein paar irre Christen oder versponnene Esoteriker vor den Toren des Cern, um den Weltuntergang abzuwenden.

An der Grenze des technisch Machbaren

Kurz bevor sich der Aufzug öffnet, fällt Laycock also der Affenwitz ein. Die Tür geht auf, dahinter ist noch eine graue schwere Eisentür. Laycock greift sich einen roten Bauhelm von der Wand, öffnet per Irisscan eine Sicherheitsschleuse. Schilder warnen vor Radioaktivität, heute null, weil der Beschleuniger gewartet wird. Laycock stapft einen hell erleuchteten Gang entlang und hinter noch einer Stahltür befindet er sich: Atlas. Ein Anblick, als säße man als Ameise vor einer Waschmaschine. Mit 25 Metern haushoch, Arbeiter werkeln auf Kränen an Kabelsträngen, im Zentrum des riesigen Zylinders die blaue Tunnelröhre, die einen 27 Kilometer langen Kreis bildet. In ihm kollidieren die Teilchen.

Vor zehn Jahren haben sich sechs Studierende für ein Erasmus-Jahr in Breslau getroffen. Hat sie das zu Europäern gemacht? Wie sie auf das Europa von damals und heute blicken, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 2./3. April. Außerdem: Wenn Gesetze nur Schall und Rauch sind: Der Kosovo hat eine menschenrechtlich sehr fortschrittliche Verfassung. Aber die Realität sieht für Homosexuelle ganz anders aus. Und: Anke Dübler ist erblindet. Jetzt stickt sie filigrane Botschaften in Blindenschrift auf Kissenbezüge. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

„Stellen Sie sich vor, sie müssten die Größe der USA schätzen und schaffen es bis auf eine Haarbreite genau“, sagt Laycock. Das schafft Atlas mit der Vermessung der 17 Teilchen des Standardmodells. Es ist die Grenze dessen, was technisch möglich ist.

Atlas ist eine Kamera, ein Mikroskop, ein Urknallerzeuger, eine Zeitmaschine, ein Ding mit vielen Namen, funktional gesehen ein monströser Detektor. Hans Magnus Enzensberger nannte die Hallen hier „Kathedrale der Physik“. Vermutlich standen die Bauern früher genauso ehrfürchtig und unwissend um die göttlichen Machenschaften in den Kathedralen wie heute der Laie vor dieser Maschine. Die Verbindung zu einer unerklärlichen Welt, dem mathematisch nicht geschulten Verstand so unzugänglich wie die Pfade des Herrn.

Ultrakurz und ultraklein

Was darin geschieht, kann man sich mit folgendem Vergleich vorstellen: Die Menschheit will Sie ins All schießen. Weil herkömmliche Raketen zu schwach sind, baut die UNO Ihnen ein Raumschiff. Es beschleunigt Sie eine Stunde lang mit der Leistung von circa 3,1 Milliarden Atomkraftwerken. Das passiert den Protonen im LHC, rechnet man die Energie, mit der sie mittels Magnetkraft beschleunigt werden, auf das Körpergewicht eines Menschen um. Je schneller, desto mehr Energie bündeln das Proton. Lichtschnell können sie allerdings laut Einsteins Relativitätstheorie nie werden.

In dem Zustand prallen die Protonen aufeinander. Wenn so viel Energie auf einem fast unendlich kleinen Raum versammelt ist, ergibt das im Prinzip eine Zeitmaschine: Rund 13,8 Milliarden Jahre nach dem Urknall bildet sich am Rand des Genfer Sees im Herzen des Atlas-Detektors für ultrakurze Zeit auf ultrakleinem Raum eine so hohe Energiedichte, wie es sie zuletzt ein paar milliardstel Billiardstelsekunden nach dem Beginn des Seins gab.

Je mehr Energie, desto näher rücken wir an den Beginn allen Seins heran, das ist die Theorie. Vielleicht schmunzeln unsere Nachfahren mal über diese Vorstellung, so wie wir heute über die Schildkröte Kurma: eine Erscheinungsform des Hindu-Gottes Vishnu, auf deren Rücken angeblich die Welt ruht.

Auf Unerwartetes hoffen

Wahrscheinlich ist das aber nicht. Bisher hat sich in der Geschichte der Physik oft herausgestellt: Überholte Theorien waren nicht falsch. Sie beschrieben nur einen kleinen Ausschnitt der Welt und gingen in allgemeineren Idee auf. Isaac Newton fand im 17. Jahrhundert Gravitationsgleichungen, die beschreiben, wie sich Planeten anziehen. Einstein zeigte 1915, dass Gravitation etwas sehr viel Komplexeres ist; eine Verzerrung der Raumzeit.

Ähnlich könnte es auch am Cern laufen. Paul Laycock steht zwar nicht zum ersten Mal vor dem Atlas, macht aber immer noch Fotos, wenn er die Urknallmaschine zu Gesicht bekommt. „Wir wissen nie, was Atlas findet“, sagt er. Sein Job besteht unter anderem darin, in den gigantischen Datenmengen, die der Titan auffängt, nach Spuren von Unerwartetem zu suchen. Nach dem, was Bisheriges über den Haufen wirft.

Wäre das Cern eine Kathedrale, dann eine, in dem der Bischof versucht zu beweisen, dass es Gott nicht gibt. Kürzlich, sagt Laycock, da ist ihm so etwas passiert. „Ich hielt ein Messergebnis in Händen und war echt aufgeregt. Wow, dachte ich, was ist das denn?“, sagt er, auch wenn er gleich einschränkt: Noch kann alles eine Fluktuation, ein Messungenauigkeit sein. Es kann aber auch eine Revolution sein: ein neues Teilchen, das niemand erwartet hat. Es wäre der erste experimentelle Nachweis eines Teilchens jenseits des Standardmodells. 750 Gigaelektronenvolt Masse hat es möglicherweise, das sei hier einmal erwähnt.

Gott ist nah – und nicht zu sprechen

Die Energie im Inneren des Atlas verschmilzt zu neuen Teilchen, die sofort wieder zerspringen, wie Vasen auf dem Boden. Dabei wandeln sie sich in andere, stabilere Bruchstücke um. Atlas schichtet eine ganze Armada Detektoren rund um diesen Miniurknall. Dort hinterlassen die Bruchstücke ihre Spuren, wenn sie vergehen. Weil sie von Magneten abgelenkt werden, in speziellen Kammern mit den Atomen des Edelgases Argon kollidieren oder in Silizium-Detektoren elektrische Ministröme in dem Halbleitermetall erzeugen, ein Effekt, der in jeder Digitalkamera passiert.

Verständlich? Nein? Das ist das Schicksal der Teilchenphysik und des Cern: die Grenzen der menschlichen Metaphorik. Gott ist ein unpersönliches Feld und wer mit ihm sprechen will, muss in Formeln kommunizieren. Das klingt albern. Aber ohne höhere Mathematik ist Teilchenphysik ein Mythos, so wie die Geschichte der Schildkröte Kurma.

Neben Energieskalen und Millisekunden gibt es noch einen sehr persönlichen Maßstab am Cern: die Anzahl schlafloser Nächte von Gian Giudice, Chef der Theorieabteilung. Falls das Teilchen, das Laycock in Staunen versetzt hat, kein Messfehler sein sollte, wird Giudice vier Wochen lang nicht schlafen. Als sie am Cern das Higgs entdeckten, schlief Giudice zwei Wochen nicht, behauptet er. Soll heißen: Das neue Ding würde Higgs in den Schatten stellen.

Giudice und die anderen Theoretiker arbeiten an der Oberfläche, die Gebäude des Cern liegen verstreut, immer entlang des 27 Kilometer langen unterirdischen Rings. Architektonisch ist das so spektakulär wie in einer Paketabfertigungshalle der Deutschen Post. Als Hollywood-Regisseur Ron Howard hier für den Film „Illuminati“ drehen wollte, war er so enttäuscht, dass er den Kontrollraum des LHC lieber im Studio nachbaute.

Leider ohne Illuminaten

Auch Giudices Büro ist schlicht; auffälligstes Stück ist eine Wandtafel, wie sie theoretische Physiker zu nutzen pflegen, um Formel draufzukritzeln. „Ein paar Gedanken“, sagt Giudice. Zum Fenster strömen Trilliarden von Photonen herein, quantenphysikalisch gesehen diskrete Zustände des elektromagnetischen Feldes vulgo: Licht.

Das berühmte Higgs zu finden war spektakulär, sagt Giudice. Aber Higgs war vorhergesagt. In der theoretischen Physik gilt es als ausgemacht, dass das Standardmodell in einer größeren Theorie aufgehen wird. Kosmologen vermuten, dass damit nur fünf Prozent der Masse des Universums beschrieben werden. Wären die sichtbaren Galaxien alles, könnten sie nach gängiger Physik nicht existieren. Irgend etwas muss sie mit einer gewaltigen Gravitationskraft zusammenhalten und dieses Etwas muss 95 Prozent der Masse des Alls ausmachen. Dunkle Materie und Dunkle Energie nennen Astronomen die fehlenden Teilchen. Am Cern suchen sie danach.

Nun also könnte sich erstmals eine Physik jenseits des Bekannten in einem Teilchenbeschleuniger andeuten. „Das wäre eine totale Revolution, ein Paradigmenwechsel, für mich die größte Entdeckung, deren Zeuge ich in meinem wissenschaftliche Leben werde“, sagt Giudice. Aber gibt es jemanden, der bereits eine Theorie für dieses neue Ding hat, sollte es sich bestätigen? Bei der Frage muss Giudice lachen. „Jemand, der eine Theorie hat?“, fragt er. „Ich kenne kaum einen theoretischen Physiker, der keine hat.“ Giudice hofft, dass es am Ende einen ganzen Zoo neuer Teilchen gibt, wie sie möglicherweise an anderen Orten des Universums existieren.

Doch auch diese Teilchen wären nur ein kleiner Teil des möglichen großen Ganzen. Denn je genauer Physiker die Grundkräfte der Natur untersuchen, desto mehr davon lassen sich in noch elementarere Prinzipien zusammenfassen.

Ein Sonnensystem als Spielplatz

„Wenn sie immer kleinere Distanzen untersuchen, dann wird die Natur immer einfacher. Wollen wir tiefer in sie eindringen, müssen wir immer kleiner werden“, sagt Giudice. Will man kleiner werden, braucht es mehr Energie. Je dichter die Energie, desto ursprünglicher der Zustand, desto näher am Urknall.

Der LHC soll seine Energie bis 2025 verzehnfachen, doch ein Teilchenbeschleuniger, der die kleinsten Bausteine des Universums enthüllt, müsste, so eine gängige Schätzung, den Umfang unseres Sonnensystems haben – schwer zu bauen. Erst dann könnte das wirklich Elementare enthüllt werden. Eine bizarre Welt, in der alles aus winzigen Seiten, Strings, besteht, die in bis zu elf Dimensionen schwingen. Warum? Erinnern Sie sich an die Schildkröte: Ohne Mathematik bleiben nur Metaphern.

Was bringt das alles? Die Frage ist simpel, man kann sie bei Kaffee und einer Zigarette in der Sonne vor der Kantine des Cern besprechen. Zum Beispiel mit Christoph Rembser, einem deutschen Physiker, der schon ewig am Cern arbeitet. Am Tisch schlendert gerade Samuel Ting vorbei, der 1974 ein neues Teilchen entdeckte und dafür den Nobelpreis erhielt. In der Kantine sitzen meiste junge Menschen, darunter viele Frauen. „Das Problem, dass sich Frauen angeblich nicht für Physik interessieren, scheint mir sehr deutsch zu sein“, sagt Rembser.

Geld oder Ruhm?

Zurück zur Frage, die zu stellen wir Rembser vor der Kantine treffen: Was bringt das alles? Nehmen wir Albert Einstein, glühender Pazifist. Er entschlüsselte die Natur des Lichtes, 30 Jahre später explodierte eine Atombombe in Hiroshima. Ohne die Relativitätstheorie hätte es sie nicht gegeben. Was passiert 30 Jahre nach der Entdeckung des Higgs? Die aggressiven Primaten, sind das nicht wir?

„Wissen ist nichts Schlechtes“, sagt Rembser und zeigt auf das Gebäude. Wenn es einen Ort gebe, an dem verhindert werde, dass Wissen missbraucht werde, dann hier.

„Ältere Kollegen erzählen, dass sie in den 80ern gut mit Sowjetwissenschaftlern gearbeitet haben, von denen einige spionierten“, sagt Rembser. „Aber es gab nichts zu spionieren. Die Ergebnisse wurden ohnehin alle veröffentlicht.“ Immer wieder wird das Cern zum Ruhepol in einer stürmischen Welt: 1989 fanden chinesische Studenten hier Zuflucht, nachdem die Reformbewegung des Landes niedergeschlagen wurde.

Rembser beschreibt das Cern auch als politisches Versprechen. Weil das Cern eine Ruheraum vor der Verwertungsmaschinerie des Kapitalismus ist. Was geforscht wird, das bestimmen die Forscher per Abstimmung in ihren Arbeitsgruppen. Die Industrie hat kein Mitspracherecht, es gibt keine Drittmittel, keine Auftragsforschung, alle Daten und Forschungen werden offengelegt.

Was sie am Cern machen, ist also nicht nur Wissenschaft, sondern Kunst. Was Wissenschaft ist, das definieren sie hier selbst, so wie der Künstler, der sein Werk zur Kunst erklärt. Sie forschen der Erkenntnis wegen. „Natürlich gehen viele junge Wissenschaftler später in die Industrie“, sagt Rembser. Dort gibt es bessere Gehälter – aber selten den Ruhm, ein neues Elementarteilchen entdeckt zu haben.

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