Die Trendfarben des Jahres 2016

Symposium Am Ende eilen Autogrammjäger zum Podium. Kurator Marcel Beyer ist glücklich und alle sind fröhlich: Die ausgesprochen gelungene Tagung „Sprache und Wissen“ im Haus der Kulturen der Welt

Wolfgang Heininger und Olaf Nicolai im Gespräch über Struktur, Muster, Störmoment Foto: Aya Schamoni/Haus der Kulturen der Welt

von Detlef Kuhlbrodt

Am Anfang steht die Übersetzung der Derrida’schen Gram­matologie; am Ende weiß man, was die Vögel dazu sagen. Die vom Schriftsteller Marcel Beyer im Haus der Kulturen der Welt kuratierte Tagung „Sprache und Wissen“ ist ein großer Spaß. Neun Monate lang hatte man sich vorbereitet; in acht Programmteilen unterhalten sich Wissenschaftler und Künstler auf der Bühne des Cafés des HdKdW. „Herrlich – die Sprache fliegt uns um die Ohren“, so Marcel Beyer.

Mit Hans-Jörg Rheinberger, dem Molekularbiologen, Wissenschaftshistoriker und ehemaligen Direktor am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte, und Hanns Zischler alias Hanno Verbier beginnt es. Sie erzählen, wie sie 1969 als Viertsemester damit begonnen hatten, die „Gram­matologie“ von Jacques Derrida zu übersetzen.

Auf dem Tisch vor ihnen liegen: der schöne Sammelband „Nach Szondi“, der zum diesjährigen 50. Geburtstag der Berliner AVL erschien, die französische Ausgabe von „de la gram­matologie“, ihre bei suhrkamp erschienene deutsche Übersetzung, Teile ihrer alten Übersetzungsmanuskripte usw.

Peter Szondi, der Gründer und jetzige Namensgeber der Berliner Allgemeinen und Vergleichenden Literaturwissenschaft (AVL), war entsetzt, als er erfuhr, dass die beiden jungen Studenten das schwierige Buch übersetzen würden. Sie sprechen von Übersetzungsproblemen, die schon beim Titel beginnen und sich bei den zentralen Begriffen fortsetzen, wie etwa der berühmten „differance“, einem minimalistischen Wortspiel zwischen Schrift und Mündlichkeit. Besser wäre es gewesen, „differance“ mit dem aus dem Alemannischen stammenden Wort „Bewägung“ zu übersetzen, das gesprochen ja der „Bewegung“ entspricht und so das Derrida’sche Oszillieren genauer abgebildet hätte. „Das haben wir uns aber nicht getraut“, so Zischler. Beide würden ihre Übersetzung gern revidieren. Thomas Sparr, der Suhrkamp-Geschäftsführer, sitzt im Publikum und wird es gehört haben.

Dann gibt es Nora Gomringers schönen, sozusagen ex­perimentell-autobiografischen Film „My 4Ltrs“, der von der menschlichen DNA handelt. Leider ist die Lyrikerin, Performancekünstlerin, Bachmannpreisträgerin und Direktorin der Villa Concordia selbst nicht da, da sie zeitgleich in Mexiko ein Festival kuratiert.

Dann sprechen der Komponist Wolfgang Heininger und der Konzeptkünstler Olaf Nicolai miteinander. Nicolai erzählt von der winzigen Verschiebung zwischen Liveaufzeichnung und Originalhandlung, die an den winzigen Spalt erinnert, der sich schon in der Fichte’schen Formel „Ich=Ich“ findet. Es gibt Passagen Neuer Musik, die gar nicht so humorlos wirken, wie man zu denken gewohnt ist, und der Komponist grinst dazu. „Als Komponist stellt man Handlungsanweisungen her und ist nicht direkt mit der Musik verbunden“, erklärt Wolfgang Heiniger. Und dann geht es noch mal um die vom US-amerikanischen Pantone Color Institute gekürten Trendfarben des Jahres 2016. „Rose Quartz“ und „Serenity“ die kaum sichtbar blass-pastellig auf der Leinwand erscheinen.

Nach jedem Programmpunkt ist Marcel Beyer fast kindlich begeistert.

Das Programm am Samstag beginnt um 14 Uhr mit einer schönen Performance von Graham F. Valentine. Danach sitzen die Professorin für Wissenschaftsgeschichte, Anke te Heesen, und Klaus Sander, der „supposé“-Verleger, auf der Bühne. Bei „supposé“ erscheinen tolle CDs mit Aufnahmen vieler Wissenschaftler, Künstler und Literaten, die über Arbeit und Leben sprechen.

Es geht um die Geschichte des Interviews, um Erika Runge, die mit ihren Ruhrgebietsinterviews berühmt wurde, um Hubert Fichte, um Wissenschaftler, die lieber sprechen als schreiben, um die Problematik professioneller Zeitzeugen. Und es gibt wunderschöne Hörbeispiele. Begeistert erzählt der Ornithologe Peter Berthold vom Auerhuhn, die Virologin Karin Mölling von Viren – „sie sind Lehrmeister für jede Lebenssituation“ –, und der Schriftsteller Peter Kurzeck erzählt von kindlichen Hypnotisierversuchen.

Erstaunlich, wie klug manche Vögel scheinen, viel klüger als Eichhörnchen

Alles ist eine große Freude und Hauptspaß. In den kurzen Pausen steht man draußen. Ungeduldig mahnt Marcel Beyer, die, die noch was zum Trinken bestellen wollen, sie sollten doch besser stilles Wasser bestellen als klappernde Kaffeetassen.

Dann trägt die Lyrikerin Dagmara Kraus Gedichte vor, die sie teils in Kunstsprachen wie Volapük oder langue bleue geschrieben hat, unterhält sich mit Marcel Beyer und dem Sprachwissenschaftler Ernst Kausen, der ein sehr umfangreiches Werk über „Die Sprachfamilien der Welt“ verfasst hat.

Die Schriftstellerin Terézia Mora redet mit den Simultanübersetzern Lilian-Astrid Geese und Günther Orth über das Übersetzen; und im letzten Programmteil erörtern der Derrida-Fan, Biologe und Kollege Cord Riechelmann und der Hallenser Biologe Frank D. Steinheimer Probleme bei der Namensgebung von Vögeln. Es ist erstaunlich, wie klug manche Vögel scheinen. Sie sind viel klüger als Eichhörnchen. Manche können 30 bis 40 verschiedene Silben bilden.

Am Ende eilen Autogrammjäger zum Podium. Marcel Beyer ist glücklich, und alle sind fröhlich.