„Du musst dich durchsichtig machen“

tanz Akram Khan, Tänzer und Choreograf aus London, rückt Frauenfiguren in den Mittelpunkt seiner Stücke. Ein Gespräch über den Geschlechterdiskurs und das Versepos „Mahabharata“

„Wenn Sie eine Tochter zur Welt bringen, bringt sie gewissermaßen auch Sie zur Welt“, sagt Akram Khan Foto: Laurent Ziegler

Interview Astrid Kaminski

Seine starke Mutter, die Frauen­rollen aus dem großen indischen Versepos „Mahabharata“, seine Tochter, Tänzerinnen, Dramaturginnen und Dichterinnen: Sie alle haben Akram Khan geprägt. Und doch hat die englische Kunstszene dem Choreografen eine Aussage über Frauen übel genommen. Das Gespräch über die Hintergründe, sein neues, demnächst in Wolfsburg gezeigtes Stück „Until the Lions“ und darüber, wie der Theaterguru Peter Brook ihn indirekt tanzen lehrte, fand in London statt.

taz: Mister Khan, Sie wurden gerade zur Speerspitze einer Diskussion über Gleichberechtigung.

Akram Khan: Sicher, die Situation weiblicher Tanzschaffender müssen wir diskutieren, aber über das Wie bin ich wirklich frustriert. 400 Kunstschaffende haben mir gerade einen offenen Brief geschrieben, weil The Stage [eine Bühnenzeitung] eine Interview-Antwort von mir aus dem Zusammenhang gerissen hat.

Wieso, das liest sich doch sehr präzise: „Wir brauchen nicht darum mehr Choreografinnen, weil sie weiblich sind, wir brauchen sie, weil ihre Arbeit herausragend ist.“ Das wurde im Titel dann noch einmal zusammengefasst: „Don’t have more female choreographers for the sake of it.“

Die Hälfte der Unterschreibenden des offenen Briefs kennt mich persönlich und meine Einstellung. Warum haben die Kollegen nicht angerufen und mich gefragt: Sag mal, wie meinst du das? Ich habe die ersten fünf Jahre meines Choreografenlebens damit verbracht, mich über Leute zu ärgern, die in meiner Herkunft den Grund für meinen Erfolg zu erkennen glaubten.

In Ihrem Antwortbrief zitieren Sie Ihre Mutter.

Wie gesagt, es verletzte mich, als ich die ersten Male hörte, ich hätte Jobs bekommen, weil ich braun sei. Und das waren nicht nur Gerüchte. Theaterdirektoren haben meine Arbeiten gebucht, ohne sie zu sehen, einfach nur, weil sie gehört hatten, dass ich etwas Interessantes mit südasiatischem Tanz machen würde. Da klingelte das Geld in ihren Kassen. Das war übrigens vor allem in England so, weniger in Europa. Die europäischen Direktoren haben sich meine Arbeiten angeschaut. Als ich mit meiner Mutter darüber redete, sagte sie zu mir: „Akram, wenn du in deinen Fähigkeiten vertraust und darin investiert, werden sie das eines Tages anerkennen müssen. Du musst das, was Leute auf den ersten Blick sehen – deine Farbe, dein Geschlecht, dein Alter – transzendieren. Du musst dich in dieser Hinsicht durchsichtig machen und ihnen dein Können zeigen.“ Das habe ich beherzigt. Ich will nichts wegen der Farbe meiner Haut oder wegen meines Geschlechts oder wegen der Quote bekommen. Das wünsche ich auch Frauen nicht.

Lassen Sie uns darüber sprechen, wie Sie dazu kamen, heute als einer der weltweit erfolgreichsten Choreografen so viel Angriffsfläche zu bieten. Fangen wir an bei dem „Mahabharata“-Epos und dem Theaterheiligen Peter Brook.

Sehen Sie, ich war um die dreizehn, als ich mit Peter Brooks „Mahabharata“ zwei Jahre lang auf Tour war. Danach ist es für ein Kind schwierig, wieder in den Schulalltag hineinzufinden. Ich hasste die Schule, nicht das Lernen, aber die Schule. Also machte ich mich jeden Morgen in Schuluniform auf den Weg in unsere Garage. Dort übte ich so lange den klassischen indischen Tanz Kathak, bis mein Stundenplan offiziell abgelaufen war.

Woher bezogen Sie das Lernmaterial?

Ich schaute nachts VHS-Kassetten über Kathak-Meister. Ich habe versucht, mir das visuell einzuprägen. Außerdem habe ich die Silbensprache, die im Kathak vorkommt, notiert.

Während der Tour mit Peter Brook hatten Sie Privatlehrer. Lief das schulisch besser?

Ja, weil sie mir die Dinge beibrachten, die ich wissen wollte.

Wie haben Ihre Lehrer Ihnen das „Mahabharata“, dieses vielschichtige, gefühls-, gebets- und auch gewaltintensive Epos erklärt?

Man ließ es mich selbst herausfinden. Ich war noch nicht in dem Alter, dass ich wirklich verstanden hätte, worum es Peter ging. Ich war ja auch nur ein kleiner Charakter in diesem gewaltigen Ganzen. Das Wichtigste für mich war die Magie. Ich durfte meine Zeit mit den besten Schauspielern der Welt verbringen und ich war absolut fasziniert von ihnen. Vor allem von den Frauen – wohl auch, weil ich meine Mutter sehr vermisst habe und sie das wussten. Daher haben sie sich auch um mich gekümmert. So habe ich von ihren Rollen mehr mitbekommen als von den Männern. Besonders von Ghandari, Kunti und Amba.

Der Geschichte von Ghandari, die sich blenden lässt, um das Schicksal ihres blinden Manns zu teilen, haben Sie sich in Ihrem Werk „Gnosis“ von 2009 gewidmet. Nun folgt die Geschichte von Amba in Ihrem aktuellen Stück „Until the Lions“. Was fordert Sie künstlerisch am „Mahabharata“ heraus?

Es wurde mir irgendwie auferlegt. Meine Mutter hat mir das schon erzählt, bevor ich zu Peter Brook kam. Was bietet mir das Epos? Es schafft Zugänge zu wesentlichen Fragen über die Menschheit. Über Liebe und Ego. Eigentlich ist das „Mahab“ eine Soap, nur dass eben auch jede Menge Dämonen und Götter, Könige und Königinnen mitspielen. Im Zentrum des Epos steht im Grunde eine simple Story. Aber gleichzeitig ist sie wahnsinnig komplex. Wie es auch bei Beziehungen der Fall ist. Man lernt, wie Dinge zusammenhängen.

Ihre Mutter erzählte Ihnen ein Hindu-Epos, aber Sie kommen aus einer bengalisch-muslimischen Familie, oder?

Ja, wir wuchsen muslimisch auf. Aber sie erzählte mir griechische Mythen genauso wie solche aus dem Nahen Osten, aus dem Judentum oder eben dieses hinduistische Epos. Ich denke, sie wollte damit meinen Blick auf das Universelle lenken, auf das, was über das Spezifische hinausgeht.

Der klassische indische Kathak, der bis heute Ihre zeitgenössischen Choreografien kennzeichnet, ist ebenfalls eine Mischung aus verschiedenen Einflüssen. Er kommt aus einer altindischen Tradition, wurde später aber auch an den Höfen muslimischer Herrscher stark geprägt.

Die muslimischen Höfe haben den Tanz abstrakter gemacht. Rhythmisch komplexer.

Akram Khan

41, ist ein weltweit bekannter Choreograf. Charakteristisch für ihn ist die Verbindung von zeitgenössischem- und klassisch-indischem Tanz. Er hat unter anderem mit Juliette Binoche, Kylie Minogue, dem Choreografen Sidi Larbi Cherkaoui und dem Autor Hanif Kureishi zusammengearbeitet.

In seinem jüngsten Werk, ­„Until the Lions“, tanzt er selbst mit. Das ist in Deutschland erstmals auf dem Festival Movimentos in Wolfsburg zu sehen, vom 20. bis 23. April.

Im „Mahabharata“ kämpfen zwei Clans gegeneinander. Es kommt zu einer Schlacht mit Millionen Toten. Hat es Sie nicht interessiert, aktuelle Konflikte damit zu spiegeln?

Das wäre das Augenfälligste ­gewesen. Und das wird daher auch in jeder Adaption getan. Ich bin mehr an einzelnen ­Charakteren interessiert, vor allem solchen, die man weniger kennt. Und da gab es den Glücksfall, dass die Autorin Karthika Naïr fragte, ob sie mir Ihren Text über Amba zeigen dürfe. Es war ein extrem physisches genauso wie metaphorisches und metaphysisches Gedicht, das eine ­Explosion von ­Bewegung und Musik in meinem Kopf auslöste.

Ich fragte mich: Wie kann ich dieses Erlebnis jenseits der Wörter in eine Form bringen. Und dabei muss ich die Dramaturgin Ruth Little erwähnen – sie ist die vielleicht wichtigste Kollegin, der ich in meiner künstlerischen Arbeit begegnet bin. Klar war: Wir wollen nicht voraussetzen, dass die Zuschauer das Epos schon gelesen haben, wenn sie in die Vorstellung kommen. Also geht es darum, die ­Essenz der Geschichte in Bewegung zu erzählen – nicht aus meiner Perspektive, sondern aus der von Amba.

Amba bringt sich um, reinkarniert als Shikandi, wird zum Mann, ein Trans-Mann sozusagen, der die Frau, die er gewesen ist, rächt. Es gibt diesen Feminismus, der die Verkörperung alles Weiblichen ablehnt, weil sie objekthaft gesehen werden könnte. Aber ist das eine feministische Botschaft, ein Mann werden zu müssen, um für seine Rechte zu kämpfen? Und das dann auf Männer­art?

Es ist vielmehr so, das Beeshma, der Gegner, nicht gegen eine Frau kämpfen würde. Er tötet keine Kinder und Frauen. Es wäre kein gerechter Kampf. Der einzige Weg, ihn zu töten, ist, sich einer Armee anzuschließen, und das geht wiederum nur als Mann.

Auf Unterdrückung folgt Empowerment, auf Unrecht Rache?

Frauen sind immer noch in einer unterprivilegierten Situation. Es ist einiges in Bewegung, aber es muss noch mehr passieren. Ich spreche hier auch über Indien und Bangladesch. Da gibt es wirklich ein paar unglaubliche Frauen, die förmlich aus der Erde brechen, aber es gibt natürlich auch all das andere. Und nun habe ich selbst eine Tochter. Wenn Sie eine Tochter zur Welt bringen, bringt sie gewissermaßen auch Sie zur Welt. Als Vater lernen sie zum ersten Mal durch die Augen eines Mädchens zu schauen.

Es geht mir in „Until the ­Lions“ nicht um die Rache. Wie es im „Mahabharata“ mit Shikandi weitergeht, ist ehrlich gesagt ziemlich furchtbar. Sie wird gejagt, ihr Körper wird in Teile zerschnitten. Furchtbare Folter. Diesen Teil wollte ich nicht zeigen. Ich wollte mit dem Moment enden, an dem sie gewonnen hat. Aber ich mache das nicht in Hollywood-Manier. Der Tod ist nicht nur ein Sieg, sondern auch ein Verlust. Das liegt am Ende in der Luft.