Essay Hier braucht es verkehrssoziale Intelligenz: über das Fahrradfahren in der Großstadt
: Knotenpunkte im geteilten Raum

Sture Bahnen. So sollten einst die Interessen von Radfahrern und Fußgängern pazifiziert werden. Inzwischen setzt man auf Kommunikation Foto: Karsten Thielker

von Dirk Knipphals

Wenn es irgend möglich ist, fahre ich mit dem Fahrrad zur Arbeit. Das sind zwanzig Minuten, die wir für uns haben, die Stadt, mein Rad und ich. Jedenfalls theoretisch. Praktisch muss man sich diese Zeit natürlich teilen, mit all den anderen Verkehrsteilnehmern.

Auf den meisten Abschnitten der Strecke weiß ich schon vorher, was passieren wird. Da ist die enge, manchmal nervige Langenscheidtbrücke. Dann der schöne Abschnitt durch den Gleisdreieckpark. Pappelblätter, die sich im Wind bewegen. Auch schon mal ein Fuchs.

Einen Abschnitt gibt es aber, bei dem ich nie weiß, was geschieht. Er liegt am Ende des Parks, vor der Kulisse des Potsdamer Platzes. Ein vielleicht drei Meter breiter Weg führt hier entlang, ein anderer Weg kreuzt, und auf den Wegen treffen sich Spaziergänger, Radfahrer, Skateboardfahrer, die Kids vom angrenzenden Spielplatz, Joggerinnen, Kinderwagenschieber und viele mehr, Touristengruppen auf Segways wurden auch schon gesichtet. Das bunte Lebenslabor der Großstadt halt, mit all seinen verschiedenen Geschwindigkeiten und überraschenden Richtungswechseln. Und es gibt keine Ampeln, keine Schilder, keine Markierungen, die das alles regeln.

Es ist oft sehr interessant, für ein paar Minuten stehenzubleiben. Alle teilen sich denselben Raum. Niemand hat mehr Rechte als der andere. Und alle müssen versuchen, miteinander klarzukommen. Wenn man danebensteht, kann man den Eindruck bekommen, dass genau das – und nicht die ewige Suche nach Hippness und „anderem“ Leben – wie in einer Nussschale die wirklich interessante zeitgenössische Berliner Situation ist. Eine Art sozia­les Experiment.

Ständig kommt es in dieser Situation natürlich zu Konflikten, vor allem wenn typische Terrainbehaupter aufeinandertreffen. Typische Terrainbehaupter sind zum Beispiel diese asozialen Fahrradfahrer (gern mit leuchtendgelber Signalweste), die meinen, mit ihrem Tausend-Euro-Rad das eingebaute Recht erworben zu haben, stur geradeaus fahren zu dürfen. Aber auch junge Mütter oder Väter mit ihrem Nachwuchs im Buggy sind das, vor sich hin Träumende und Fußgängergruppen im Modus des Miteinander-Quatschens.

Wirklich interessant sind aber erst die unvorhergesehenen komplexen Situationen, die schnell entstehen können. Etwa wenn, während zwei Radfahrer sich schnell einigen müssen, ob rechts vor links gilt oder nicht, sich direkt vor ihnen auf der Kreuzung gerade ein cooler Junge mit seinem Skateboard flachlegt. Oder wenn ein Jogger einem tobenden Hund ausweicht, dem Jogger wiederum ein Radfahrer, während direkt vor ihm sich zwei Jugendliche gerade dazu entschlossen haben, abrupt stehenzubleiben und ihre WhatsApp-Nachrichten auf dem Smartphone zu lesen. Alles schon gesehen.

Nun lässt sich natürlich schnell behaupten, in so einer Lage sei es angebracht, wenn alle Verkehrsteilnehmer von sich aus langsamer fahren oder sich schmaler machen würden. Aber erstens ist das wishful thinking. Und zweitens trifft das nicht den Punkt. Denn es kann auch schon Spaß machen, etwa auf Rollerblades quer durch so ein Gewusel zu flitzen. Und es wäre auch schon gut, neben dem gemütlichen Tratsch hinter seinen Kinderwagen auch die Freude am schnellen Radfahren möglich zu machen.

Was solche Situationen erfordern, sind also neben Rücksichtnahme eine Bereitschaft zur schnellen, oft nur durch Blicke hergestellten Kommunikation untereinander und eine verkehrssoziale Intelligenz, wie die Situationen schnellstmöglich und kollisionsfrei wieder aufzuheben sind. In gewisser Weise ist diese Stelle im Park eine Maschine zur Erzeugung gesellschaftlicher Teilhabe. Sie setzt die Fähigkeit voraus, sich momentweise in die Perspektive des anderen zu versetzen, um den gemeinsam geteilten Raum in der jeweiligen Situation bestmöglich ausnutzen zu können. In ruhigen Stunde ist ja auch genug Platz da.

Das macht die Stelle so interessant. In Berlin kursieren derzeit viele schöne Pläne, den Verkehr fahrradgerechter zu machen. Da Berlin aber notorisch klamm ist und viele Pläne nur langsam umgesetzt werden, kann man auch vielerorts noch sehen, mit welchen Maßnahmen einst die Interessenskonflikte zwischen Verkehrsteilnehmern pazifiziert werden sollten: durch Aufteilung der Räume.

Vor allem im alten Westberlin fährt man als Radfahrer noch auf schmalen Radwegen – sie sind die Pest. Im Zweifel muss man dennoch ständig Fußgängern ausweichen. Manchmal sind Rad- und Fußweg auch durch eine kleine Erhebung voneinander getrennt, über die man leicht stürzt. Und dann ist da noch etwas: Diese Einpferchung in sture Bahnen beleidigt die Intelligenz. Ich komme mir auf meinem Rad dann jedenfalls oft wie ein braves Herdentier vor, dem ein guter Hirte die Wege von vornherein festgelegt hat.

Das Ganze ist eine Wette auf Bereitschaft zur Aufmerksamkeit. Und auf Zivilisiertheit

Das ist an diesem Knotenpunkt im Gleisdreieckpark ganz anders. Hier wird damit gerechnet, dass Menschen soziale Wesen und lernfähig sind – dass sich also auch die asozialen Radfahrer und apathischen Fußgänger nach ein, zwei heiklen Situationen in die Gesamtgruppe der Parkbenutzer integrieren werden. Das mag nicht immer gelingen, ist aber durchaus der menschenfreundlichere Ansatz.

Es ist leicht, unter Radfahrern auf Autofahrer oder Fußgänger zu schimpfen (und umgekehrt). Dieser Abschnitt im Berliner Gleisdreieckpark – in anderen Städten wird es ähnliche Orte geben – ist dagegen in die Alltagsbetrachtung noch nicht richtig eingespeist, scheint mir. Hier geht es darum, sich gegenseitig etwas zu ermöglichen. An die Stelle allgemeiner Regeln setzt der Abschnitt ein Mikromanagement schneller Aushandelsvorgänge, wann Schnellfahren okay ist und wann man Platz beanspruchen kann. Das Ganze ist eine Wette auf Aufmerksamkeits- und Kommunikationsbereitschaft. Und auf Zivilisiertheit. Regellosigkeit wird ja oft mit dem Naturzustand verbunden. Aber das stimmt nicht. Slums etwa sind voller sozialer Regeln. Regellosigkeit setzt gerade ein Hochmaß an Zivilisiertheit voraus.

Ich mag diese Stelle auf meinem Arbeitsweg. Wenn ich weiterfahre, gibt es schon auch ein Genervtsein darüber, dass man auf dem Fahrrad ständig aufpassen muss (am liebsten hätte man ja sowieso den ganzen Park für sich). Aber gleich daneben liegt die Freude daran, Teil so einer urbanen Situation zu sein. Ein Gefühl dafür, wie schön und bereichernd es ist, in der Großstadt zu leben.

Beim Weiterfahren drücke ich immer die Daumen, dass dieses ja auch heikle Experiment, sich ohne Regeln zu begegnen, insgesamt gelingen möge.