Verloren im Alltag

Film Melancholische Schönheit ohne eindeutige Antworten: „The American Landscape“ im Arsenal zeigt die Filme Kelly Reichardts

Jede Einstellung eine sorgfältige Charakterstudie: Michelle Williams in Kelly Reichardts „Wendy and Lucy“ Foto: Arsenal

von Andreas Resch

In vielerlei Hinsicht entziehen sich die Filme der 1964 in Miami geborenen US-amerikanischen Regisseurin, Autorin und Cutterin Kelly Reichardt jenen Erwartungen, die man für gewöhnlich an Filme stellt. Normalerweise, insbesondere natürlich im Hollywoodkino, verhält es sich so, dass die Figuren eines Films durch ihr Handeln aktiv ihr Schicksal bestimmen, dass sie Entscheidungen treffen, die über Glück oder Unglück, Sieg oder Niederlage entscheiden.

Nicht jedoch bei Kelly Rei­chardt. Hier sehen sich die Figuren zwar auch oft mit harten Entscheidungen konfrontiert; doch gibt es stets eben auch eine zweite, schwerer zu greifende – nennen wir sie kosmische – Instanz, die sich immer wieder vorbehält, den Plänen von Rei­chardts Charakteren einen Strich durch die Rechnung zu machen.

In ihrem Meta-Western „Meek’s Cutoff“ aus dem Jahr 2010 lässt Reichardt eine von Michelle Williams gespielte Frau auf dem Oregon Trail so lange gegen die Entscheidungen ihres Führers Stephen Meek aufbegehren, bis sie endlich und entgegen allen im Jahre 1845 geltenden Konventionen die Führung des Zuges übernehmen darf. Doch während sich in einem anderen Western nun alles zum Guten wenden würde, bleibt hier alles offen. War die Entscheidung der neuen Führerin, einem gefangenen Indianer auf der verzweifelten Suche nach Wasser zu vertrauen, nun die richtige? Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht.

„Wendy and Lucy“ (2008) handelt von einer Frau, die in einer Kleinstadt in Oregon strandet, als sie ihren Hund verliert. Über achtzig Minuten hinweg begleiten wir Wendy (Michelle Williams) durch diesen Film, sehen der jungen Drifterin auf der Suche nach ihrem Hund Lucy zu. Auch hier arbeitet Reichardt gegen so ziemlich jede erzählerische Regel, die es über das Filmemachen gibt. Weder erfahren wir, warum Wendy so verloren ist, warum sie unbedingt nach Alaska möchte. Noch gibt es im klassischen Sinne wirklich dramatische Szenen. Das meiste, was wir sehen, ist Alltag: Wendy im Tierasyl. Wendy in der Kfz-Werkstatt. Wendy, die sich im Waschraum einer Tankstelle für den Tag fertig macht. Und dennoch ist das alles extrem dicht, ist jede Szene von immenser Intensität, jede Einstellung eine sorgfältige Charakterstudie.

In „Night Moves“ (2013) jagen zwei Männer und eine Frau einen Staudamm in die Luft und müssen im Anschluss mit den nicht vorhergesehenen Konsequenzen umgehen. Kelly Rei­chardts Anverwandlung des Thrillergenres ist ein Film, der ganz ruhig, ja idyllisch beginnt, der jedoch langsam und ohne dass man dies zunächst bemerken würde, in Richtung Psychothriller kippt. Und es sind die Bilder eines im Verlauf dieses Films immer wieder stoisch ins Leere blickenden Jesse Eisenberg, die einen auch später noch lange verfolgen werden.

Überhaupt ist dieses Einen-nicht-mehr-Loslassen eine typische Reichardt-Erfahrung, die sich auch bei „Old Joy“ aus dem Jahr 2006 einstellt. Der Film erzählt von zwei alternden Linksalternativen aus Portland, Oregon. Einer, Mark, wird bald Vater werden. Der andere, Kurt, versucht mit einer schon an Verzweiflung grenzenden Vehemenz, jenes Leben, das er schon immer geführt hat, weiterzuleben. Die beiden begeben sich auf einen Road Trip, der hier doch bloß ein Campingausflug ist.

Auf der einen Seite passiert nicht viel, bleibt die große Aussprache, das reinigende Gewitter aus. Auf der anderen Seite geschieht so unendlich viel in diesem Zusammenspiel zweier einander fremd gewordener Männer, dass es schier unglaublich ist. Wie in „Meek’s Cutoff“ verweigert uns Kelly Reichardt auch hier eine klare, eindeutige Antwort: Ist Kurt nun ein Rebell oder ein Verlorener? Steht Mark tatsächlich an der Schwelle, ein neues, erfüllteres Leben als Familienvater zu beginnen, oder ist er zu sehr Gefangener seiner Ängste, um sein Glück noch zu finden?

Es ist überaus zutreffend, dass der Titel dieser Retrospektive im Arsenal mit den ersten fünf Filmen Kelly Reichardts „The American Landscape“ heißt. Denn die Regisseurin kartografiert ihr Land, das in ihren Filmen meist der Pazifische Nordwesten ist, in einer Weise, die einen das Zusammenspiel von Mensch und Natur besser begreifen lässt. Und mögen Reichardts Landschaftsaufnahmen auch noch so sehr geprägt sein von einer unendlichen melancholischen Schönheit, erfüllen sie doch stets auch einen erzählerischen Zweck, dienen sie immer auch als Blick in die Seelen ihrer Protagonisten.

Genauso wie der Ton: Sei es das Vogelgezwitscher während des Hiking-Trips in „Old Joy“ oder das Rauschen des Wassers zu Beginn von „Meek’s Cutoff“: Stets ist das alles mehr als reines Idyll, sondern immer auch Ausdruck jener großen Kunst Rei­chardts, die Wünsche und Ziele ihrer Figuren eben nicht nur in Gestalt von Worten und Bildern, sondern ebenso über Töne erfahrbar zu machen.

Die Filmreihe „The American Landscape – Die Filme von Kelly Reichardt“ läuft vom 1. bis 5. Mai im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2