Entdeckung Wie konnte diese Autorin nur vergessen werden! Die rauen Geschichten der Lucia Berlin
: Alkohol und das alles

Weise Putzfrauen, scheiternde Lehrerinnen: Lucia Berlin Foto: Literary Estate of Lucia Berlin

von Tobias Schwartz

In ihrem berühmten Essay „Mr. Bennett and Mrs. Brown“ wirft Virginia Woolf verschiedenen Bestsellerautoren ihrer Zeit vor, keine Ahnung vom Leben selbst zu haben. Exemplarisch nennt sie Arnold Bennett, dessen Roman „Hotel Grand Babylon“ auch bei uns Beachtung fand. Bennett beschreibe zwar Fabriken und Utopien, sehe aber nicht den Menschen, der beispielsweise neben ihm in einem Zugabteil sitzt. Doch gerade auf diesen Menschen – Virginia Woolf nennt ihn „Mrs. Brown“ – komme es an. Auch und besonders in der Literatur.

Liest man die vor Kurzem in den USA wiederentdeckten, gleich nach Erscheinen in der Bestsellerliste der New York Times gelandeten, seitdem vielerorts hochgepriesenen und nun auch auf Deutsch erschienenen Kurzgeschichten Lucia Berlins, scheint es, als habe diese tatsächlich grandiose Schriftstellerin Virginia Woolfs Ansprüche verinnerlicht.

Bei einem Großteil der Figuren in der Sammlung „Was ich sonst noch verpasst habe“ handelt es sich um ebensolche Mrs. Browns, wie sie einem im anonymen Zugabteil begegnen, ohne dass man sie je wirklich bemerken würde. Zum Beispiel die Putzfrau in der Erzählung „Trauern“, die eine echte Aura Woolf’scher Weisheit umweht: „Ich mag Häuser und all das, was sie mir zu erzählen haben. Das ist einer der Gründe, warum es mir nichts ausmacht, als Putzfrau zu arbeiten. Es ist so, als würde man ein Buch lesen.“

Neben Putzfrauen tauchen Krankenschwestern auf, die tagtäglich den Tod vor Augen haben, scheiternde Lehrerinnen, gehänselte Kinder und nicht zuletzt verwahrloste Mütter. In „Carmen“ schlägt ein Heroinabhängiger seine hochschwangere Partnerin, die im Delirium die Geburt eines gesunden Mädchens imaginiert und stattdessen ein totes zur Welt bringt. Nicht wenige Figuren sind Alkoholikerinnen. Der relativ am Anfang stehende Satz „Soweit ich mich zurückerinnern kann, habe ich immer einen sehr schlechten ersten Eindruck gemacht“ (aus „Sterne und Heilige“) könnte auch gleich dem Buch als Motto vorangestellt sein.

Das soziale Abseits kennt Lucia Berlin genauso wie die Welt der Gutsituierten, in der sie aufwuchs – mitten im schillernden Santiago de Chile. Sie führt uns Elend und Abgründe unterschiedlicher Gesellschaftsschichten schonungslos vor Augen, hart, ja mit drastischer Wucht, behält dabei aber die Schönheiten des Lebens im Blick und verliert auch nicht den Humor. Im Gegenteil, ein lebensbejahender, im Grunde positiver Humor ist so etwas wie ihr Markenzeichen. Das ist keine Selbstverständlichkeit, wenn man bedenkt, dass die 1936 in Alaska geborene und als Kind an Skoliose erkrankte Autorin selbst ein Leben lang alkoholabhängig war, drei Ehen hinter sich brachte und vier Söhne allein aufzog. Auch um ihr Schreiben zu finanzieren, jobbte sie als Putzfrau, Aushilfslehrerin und Krankenpflegerin.

Gebrochene Charaktere

Über jeden Verdacht, ihr Leben im schlichten Sinne autobiografisch niederzuschreiben, bleibt sie erhaben. Dazu sind ihre in den Sechzigern, Siebzigern und Achtzigern entstandenen Texte bei aller Rauheit und allem Ungestüm zu kunstvoll gestaltet. Vielleicht aber liegt es doch am biografischen Themenspektrum, an der Wiederkehr einzelner Figuren und Figurentypen und auch an der Wiederkehr verschiedener Schauplätze in Nord- und Südamerika, dass sich beim Lesen immer wieder das Gefühl einstellt, es gar nicht mit „Storys“ zu tun zu haben, sondern mit einer wenn auch fragmentierten Form von Roman.

Gäbe es keine Titel, würde man das Shortstory-Genre bald vergessen, denn Lucia Berlin erschafft ein komplexes Universum, in dem die einzelnen Episoden alle zusammenzuhängen scheinen. Vielleicht ist es kein Zufall, dass es sich bei „In den Wäldern des menschlichen Herzens“, dem neuen Roman von Antje Rávic Strubel, die die Kurzgeschichten kongenial übersetzt hat, um einen Episodenroman handelt, dessen einzelne Teile ebenfalls miteinander in Verbindung stehen.

Viele Vergleiche sind bemüht worden, um das Werk der 2004 gestorbenen Lucia Berlin, die bis dato als „das bestgehütete literarische Geheimnis der USA“ galt, einzuordnen. Besonders naheliegend ist vielleicht derjenige mit Raymond Carver, den sie kannte, schätzte und beinahe in den Schatten stellt. Antje Rávic Strubel vergleicht sie in einem klugen Vorwort mit Carson McCullers – aufgrund des Interesses für gebrochene Charaktere.

Katherine Mansfield fällt einem noch ein, Alice Munro, der eine oder andere Beatautor und sogar Ernest Hemingway, da nämlich, wo es um Stierkampf geht und den „animalischen Gestank von Tigern“. Erklärtes Vorbild der Autorin bleibt indes Tschechow.

So viele Vergleiche können natürlich leicht willkürlich wirken, sie sind aber vielmehr Indiz dafür, dass man es hier mit einer originären, letztlich unvergleichbaren Schriftstellerin zu tun hat.

Lucia Berlin: „Was ich sonst noch verpasst habe“. A. d. Engl. von Antje Rávic Strubel. Arche, Zürich 2016, 384 S., 22,99 Euro