Barrierefreiheit in Berlin: „Behinderte sind nicht sexy“

RollstuhlfahrerInnen haben es in Berlin weiterhin schwer: In vielen Restaurants oder auf öffentlichen Plätzen versperren Hindernisse ihnen den Weg.

Hinweisschild für Rollstuhlfahrer

Das geht schon mal in die richtige Richtung Foto: dpa

Dominik Peter sitzt an einem kleinen runden Metalltisch vor einem Café in Prenzlauer Berg. Er genießt die Nachmittagssonne und eine Zigarette. Den Espresso macchiato lässt er sich nach draußen bringen. Ins Café kommt er nicht. Die Stufe vor der Eingangstür kann er nicht überwinden.

Seit einem Unfall vor 18 Jahren sitzt der 51-Jährige im Rollstuhl und kennt die Barrieren in seinem Kiez. Nur ein paar Meter neben dem Café befindet sich sein ehemaliger Lieblingsitaliener. Nachdem der Bezirk Pankow im Jahr 2012 den Gehweg an dieser Stelle absenken ließ und dadurch eine Schwelle zur Eingangstür entstand, ist das Lokal für ihn nicht mehr zugänglich. „Vorher hatte der Gehweg eine leichte Steigung, die Fußgänger haben sie nicht einmal gemerkt“, sagt Peter, der freiberuflich als Reisejournalist und ehrenamtlich als Chefredakteur der Berliner Behinderten Zeitung arbeitet. Die Tatsache, dass die Verkehrslandschaft hier bereits barrierefrei war, bei einem Umbau aber eine Barriere eingebaut wurde, ist für ihn diskriminierend.

„Vorhandene Stufen wurden durch die Hauseigentümer als Altbestand wiederhergestellt“, antwortete der Pankower Bezirksstadtrat und Leiter der Abteilung Stadtentwicklung Jens-Holger Kirchner (Grüne) auf eine Anfrage der taz. Und erläutert außerdem, dass an dieser Stelle die Deckschicht des Gehweges erneuert worden sei. Eine Erklärung für die Notwendigkeit eines Einbaus von Stufen ist diese Antwort dennoch nicht. Kirchner gibt die Verantwortung in dieser Angelegenheit an die Eigentümer der Gebäude weiter.

Rücksicht auf Allgemeinheit

Auch für den Behindertenbeirat von Pankow ist die Gehwegerneuerung „ein diskriminierender Zustand für mobilitätseingeschränkte Bürger“. Außerdem verstoße die Baumaßnahme gegen mehrere Vorschriften: Paragraf 51 der Bauordnung für Berlin, welcher das barrierefreie Bauen behandelt, und Paragraf 4 des Behindertengleichstellungsgesetzes, der unter anderem die Barrierefreiheit von baulichen Anlagen vorschreibt. Der Beirat stellte daher einen Antrag auf die Wiederherstellung des barrierefreien Zugangs.

Baustadtrat Kirchner fühlt sich nicht zuständig. „Natürlich ist es kostenaufwendig, innerhalb der Gebäude Eingangsbereiche rollstuhlgerecht herzustellen“, teilte er der taz mit und wies darauf hin, dass Höhenunterschiede „nicht zulasten der Allgemeinheit“ ausgeglichen werden dürften. Das „natürliche Längsgefälle des Gehweges“ sei beeinträchtigt, wodurch sich Fußgänger nicht auf ein sicheres Begehen verlassen könnten. Kirchner führte in diesem Zusammenhang blinde und ältere Menschen an. Die knapp 26.000 Berliner mit außergewöhnlicher Gehbehinderung müssen hier also Rücksicht auf die Allgemeinheit nehmen.

Der frühere Inhaber des Lokals hatte Dominik Peter angeboten, ihm hineinzuhelfen. Doch solche Lösungen gefallen ihm nicht. Man müsse klingeln oder sich anders bemerkbar machen. Genervte Angestellte müssen ihn dann über eine Rampe schieben, die oft zu steil ist, um eigenständig mit dem Rollstuhl darüberzurollen.

41.000 barrierefreie Wohnungen fehlten laut Wohnatlas im Jahr 2011 in Berlin

In seiner Wohnung hat Peter diese Probleme nicht. Der Aufzug fährt ihn direkt in den Flur. Auch die Wohnung selbst ist barrierefrei – keine Selbstverständlichkeit. Aus dem Wohnatlas des Kuratorium Deutsche Altershilfe und der Wüstenrot Stiftung geht hervor, dass im Jahr 2011 insgesamt 41.000 barrierefreie Wohnungen in Berlin fehlten. Die Zahl wird bedingt durch den demografischen Wandel und durch Zuzüge wahrscheinlich weitersteigen. Wenn das Angebot gleichzeitig nicht wächst, könnte barrierefreies Wohnen in Berlin bald zum Luxus werden. „Nachhaltige Politik“ wäre für Peter, zukünftig nur noch barrierefrei zu bauen. Er kritisiert, dass der Fokus eher auf der Lösung von akuten Problemen als auf zukünftigen Angelegenheiten liegt.

In Prenzlauer Berg wurde auch der Gehweg nahe dem Park am Wasserturm kürzlich erneuert – aus Sicht eines Rollstuhlnutzers allerdings nicht optimiert. Denn die für Berlin typischen großen Granitplatten auf der mittigen Gehbahn wurden lediglich neu verlegt. Die Fugen zwischen diesen Platten sind noch genauso groß wie zuvor und bergen für Peter das Risiko, mit den kleinen Lenkrädern seines Rollstuhls darin stecken zu bleiben. Die Streifen aus Kleinpflastersteinen rechts und links der großen Steinplatten sind leider keine gute Alternative. Denn die Steinchen sind zu klein, um ruckelfrei darüberrollen zu können.

Beim Thema Barrierefreiheit belegt Berlin Platz 4 unter den 5 einwohnerstärksten deutschen Metropolen. Das ergibt eine aktuelle Umfrage im Auftrag der Aktion Mensch. Spitzenreiter ist München, Frankfurt und Hamburg folgen, Schlusslicht ist Köln.

Wie schon 2012 wurden Bewohner der fünf Metropolen und aus ganz Deutschland aufgefordert, die Barrierefreiheit ihrer Stadt zu bewerten. Berlin hat sich um einen Platz verschlechtert, liegt aber noch über dem Bundesdurchschnitt. 36 Prozent der Berliner bestätigen, dass ihre Stadt viel für Behinderte macht. Bundesweit stimmen dem nur 28 Prozent zu. (taz)

Finanziert wurde die Baumaßnahme mit dem Namen Denkmalgerechte Erneuerung laut Kirchner aus Fördermitteln des Programms Städtebaulicher Denkmalschutz. Eine Hauptforderung sei die „größtmögliche Wiederverwendung der vorhandenen Pflastersteine und Granitplatten“ gewesen. Gemäß einer Baunorm, die die Oberflächengestaltung von Pflaster- und Plattenbelägen regelt, müssen Bodenbeläge allerdings „leicht, erschütterungsarm und gefahrlos begeh- und befahrbar“ sein. Über eine ­Einführung oder Teil­einführung dieser Norm müsse Kirchner zufolge die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung und Umwelt entscheiden. Die Bedürfnisse von gehbehinderten Menschen wurden hier scheinbar nicht bedacht oder bewusst ignoriert – zugunsten des Charmes alter Gehwege.

BVG gut aufgestellt

Für längere Wege gibt es den öffentlichen Nahverkehr. Die Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) seien in puncto Barrierefreiheit gut aufgestellt, findet Peter (siehe Text rechts). Aufzüge oder Rampen gibt es an fast allen U-Bahnhöfen, und alle Busse können Rollstühle, Rollatoren oder Kinderwagen befördern. Eine gute Nachricht für Personen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Aber: „Was ist mit den Sehbehinderten?“, fragt Dominik Peter, der als Vorsitzender des Berliner Behindertenverbands e. V. nicht nur die Interessen von Rollstuhlfahrern vertritt.

Nach Angaben des Allgemeinen Blinden- und Sehbehindertenvereins Berlin (ABSV) leben in der Hauptstadt etwa 20.000 sehbehinderte und 6.000 blinde Menschen. Sie können an Bushaltestellen, an denen mehrere Linien fahren, nicht erkennen, welche gerade vor ihnen hält, ohne den Fahrer zu fragen. „Daisy“, das „Dynamische Auskunfts- und Informationssystem“ der BVG, liest zwar an allen U-Bahnhöfen die Fahrinformationen vor, allerdings nur an den wenigsten Tram- und Bushaltestellen. Eine andere Möglichkeit wären Außenlautsprecher an Bussen und Trams. Seit nunmehr 20 Jahren werde laut Peter darüber diskutiert, wie man sehbehinderten Menschen die Fahrt im öffentlichen Nahverkehr erleichtern kann. Warum das so lange dauert? Dominik Peter glaubt: „Behinderte sind einfach nicht sexy.“

Dominik Peter möchte noch eine weitere Bar in Prenzlauer Berg zeigen, die die Barrierefreiheit abgeschafft hat. Schuldig ist in diesem Fall nicht die Verwaltung, sondern der Eigentümer. Früher war am Eingang eine Betonrampe, erinnert sich Peter. Die wurde 2013 allerdings vom Inhaber des Lokals durch Stufen ersetzt, vermutlich aus ästhetischen Gründen. Nach dem Umbau hatte Peters Lebenspartner den Sachverhalt der zuständigen Baubehörde gemeldet, offensichtlich mit Erfolg. Neben dem Haupteingang, der über drei Stufen erreichbar ist, gibt es nun einen zusätzlichen Seiteneingang für Rollstuhlfahrer – mit einem Aufkleber gekennzeichnet und mit einer Metallrampe ausgestattet. Peter ist jetzt überrascht: „Dieses Beispiel kann ich jetzt nicht mehr anführen.“

U-Bahnhöfe: 110 der insgesamt 173 U-Bahnhöfe in Berlin sind über eine Rampe oder einen Aufzug stufenlos zugänglich und mit Blindenleitsystemen ausgestattet. Aufzugstörungen und barrierefreie Verbindungen können auf der Webseite der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) abgerufen werden. In den kommenden Jahren will die BVG alle U-Bahnhöfe barrierefrei zugänglich machen.

Trams und Busse: Mit Ausnahme der Linien 37 und 61 werden alle Trams ganz oder teilweise von barrierefreien Zügen befahren. Barrierefreie Verbindungen werden angezeigt. Bis 2017 will die BVG auf allen Strecken barrierefreie Niederflurstraßenbahnen einsetzen und beschafft dafür seit 2008 neue Fahrzeuge. Alle Busse können Rollstühle, Rollatoren und Kinderwagen befördern. Ausnahme: Auf der Ausflugslinie 218 fahren alle zwei Stunden nicht barrierefreie Traditionsbusse.

Sonderfahrdienst und Taxis: Der Sonderfahrdienst (SFD) bietet die Beförderung mit behindertengerechten Fahrzeugen und eine Treppenhilfe an. Der Hauptwohnsitz in Berlin und das Merkmal „T“ auf dem Schwerbehindertenausweis berechtigen zur Teilnahme am SFD. Anspruch auf das „T“ haben Menschen mit einer außergewöhnlichen Gehbehinderung, einem mobilitätsbedingten Grad der Behinderung von mindestens 80 Prozent und Fähigkeitsstörungen beim Treppensteigen. Für die Vergabe ist das Landesamt für Gesundheit und Soziales (Lageso) zuständig. Fahrten mit dem SFD müssen mindestens zwei Tage vorher telefonisch unter (030) 26102300 oder per Mail an order@sfd-berlin.de gebucht werden.

Wirklich begeistert ist Dominik Peter dennoch nicht. Im Lokal steht ein Tisch mit vier Stühlen direkt vor dem Eingang für Rollstuhlfahrer. Diese müssten also zur Seite geräumt und die Gäste neu platziert werden, sagt Peter. Am liebsten wäre es Dominik Peter, denselben Eingang wie die nicht behinderten Gäste zu benutzen, ohne fremde Hilfe.

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