Weitere Prozesse gegen SS-Wachleute: Die letzte Handvoll im Visier

Es gibt neue Vorermittlungen gegen Ex-SS-Wachleute. Als Tatbestand könnte bald auch „Vernichtung durch die Lebensverhältnisse“ gelten.

Ein Mann in einem Rollstuhl fährt in einen Saal

Reinhold Hanning, 94, Ex-SS-Wachmann in Auschwitz, auf dem Weg zum Gerichtssaal in Detmold Foto: dpa

BERLIN taz | Auch 71 Jahre nach der Kapitulation Nazi-Deutschlands gehen die Ermittlungen gegen mutmaßliche NS-Verbrecher weiter. Die Zentrale Stelle zur Ermittlung von NS-Kriegsverbrechen in Ludwigsburg und die Schwerpunktstaatsanwaltschaft für NS-Verbrechen in Dortmund haben weitere Recherchen gestartet.

In Ludwigsburg finden derzeit Vorermittlungen gegen mutmaßliche SS-Mitglieder statt, die im Konzentrationslager Stutthof tätig waren. Es handele sich um „eine gute Handvoll Personen“, bestätigte der stellvertretender Leiter der Ermittlungsbehörde Thomas Will. Alle Betroffenen seien älter als 90 Jahre. Auch die Ermittlungen gegen Personen, die in Auschwitz anwesend waren, seien noch nicht abgeschlossen.

In Stutthof bei Danzig waren etwa 3.000 SS-Leute stationiert. Das KZ verzeichnete besonders viele Todesfälle unter den Zwangsarbeitern. Ab Juni 1944 bis zur Befreiung durch sowjetische Truppen im Januar 1945 diente es als reines Vernichtungslager, Neuankömmlinge wurden sofort in den Gaskammern ermordet. Die Dortmunder Staatsanwaltschaft ermittelt derzeit in rund zehn Verfahren, sagte deren Leiter Andreas Brendel der taz.

Darüber hinaus ergeben sich neue Ermittlungsansätze infolge des Prozesses gegen den früheren SS-Wachmann in Auschwitz, Reinhold Hanning, der derzeit wegen Beihilfe zum Mord in Detmold stattfindet. Die Anklage umfasst erstmals in einem NS-Prozess auch die „Vernichtung durch die Lebensverhältnisse“, womit insbesondere die unzureichende Ernährung der Zwangsarbeiter in Auschwitz gemeint ist. Auf diese Weise seien im Tatzeitraum mehrere Tausend Gefangene gestorben.

Verhandlungsfähigkeit oft strittig

Erst seit einigen Jahren hat sich die Rechtsauffassung durchgesetzt, dass schon die Anwesenheit eines SS-Angehörigen in einem Vernichtungslager ein ausreichendes Merkmal für eine Verurteilung wegen Beihilfe zum Mord darstellt – mehrere Tausend Auschwitz-Wachmänner der SS waren zuvor einer Betrafung entgangen, da gegen sie kein individueller Tatnachweis möglich war. Allerdings steht eine Überprüfung des entsprechenden Urteils durch den Bundesgerichtshof (BGH) noch aus. Die neue Rechtsauffassung betrifft Mordstätten wie etwa Sobibor, Treblinka oder Auschwitz-Birkenau, nicht aber Konzentrationslager, in denen Häftlinge nicht planmäßig ermordet wurden.

Sollte Hanning in Dortmund auch aufgrund der „Vernichtung durch die Lebensverhältnisse“ verurteilt werden, ergäben sich daraus neue Ermittlungsmöglichkeiten gegen KZ-Wächter.

Bei der Aburteilung mutmaßlicher NS-Straftäter haben sich in jüngster Zeit erhebliche Schwierigkeiten aufgrund des hohen Alters der Angeklagten ergeben. Dies betrifft drei Auschwitz-Verfahren: Ein 92-Jähriger SS-Wachmann aus dem Raum Hanau starb Anfang April wenige Tage vor dem geplanten Prozess. Das Verfahren gegen eine 92-Jährige vor dem Landgericht Kiel kann derzeit wegen Verhandlungsunfähigkeit der Angeklagten nicht beginnen. Und in Neubrandenburg streiten, Verteidiger, Ankläger und das Gericht um die Verhandlungsfähigkeit eines 95-Jährigen.

Brendel hält es für möglich, dass es keine weiteren Prozesse gegen Auschwitz-Täter mehr geben wird: „Beim Komplex Auschwitz könnte das Detmolder Verfahren das letzte sein“, sagte der Ankläger in Detmold.

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