Bitte die Schilder hoch

Brasilien Unversehens politisch: Os Mutantes aus São Paulo und ihr Psychedelic-Rock im Club Marie Antoinette

Ihr Debüt von 1968 zählt bestimmt zu den fünf feinsten Psychedelic-Rock-Platten aller Zeiten

Geschichte wiederholt sich vielleicht doch. Vor etwas über 50 Jahren gab es in Brasilien einen Militärputsch, der auch enormen Einfluss auf das kulturelle Leben des Landes hatte. Stars der Tropicália-Bewegung wie Caetano Veloso und Gilberto Gil galten plötzlich als Dissidenten und mussten letztendlich das Land verlassen. Auch die wohl eigenwilligste Band in diesen auch für Brasilien ziemlich aufregenden späten Sechzigern, Os Mutantes aus São Paulo, gehörten nun zu den erklärten Gegnern der Militärregierung, die sich an die Macht geputscht hatte.

Aktuell geht es in Brasilien erneut drunter und drüber. Die bis vor Kurzem noch regierende Präsidentin Dilma Rousseff, eine Linke, hat sich in undurchsichtige Bestechungsskandale verwickelt und ihr Amt hat nun der als Übergangspräsident gehandelte Michel Temer inne, der als politisch konservativ gilt. Schon reden viele in Brasilien von einem erneuten Putsch.

1968 veröffentlichten Os Mutantes ihr gleichnamiges Debüt, das bestimmt zu den fünf feinsten Psychedelic-Rock-Platten aller Zeiten zu zählen ist. Seitdem sind sie nicht dieselben geblieben. Von der Originalbesetzung ist nurmehr Sänger Sérgio Dias Baptista übrig geblieben. Aber die Band weiß immer noch, was sie ihrem Ruf schuldig ist.

Im ausverkauften Club Marie Antoinette spielt die Band ein wildes Set, und die vielen Brasilianer im Publikum werden andauernd aufgefordert, die verteilten Papierschilder hochzuhalten: Auf denen wird der brasilianische Interimspräsident unmissverständlich aufgefordert, doch bitte einfach wieder abzuhauen. So schwappte auf einem kleinen Rockkonzert unerwartet ganz schön viel von den aktuellen Verhältnissen in Brasilien nach Berlin.

Auf rein musikalischer Ebene konnte die Band die vollendete Schönheit ihrer frühen Alben, vor allem ihres Debüts, natürlich live nicht adäquat vermitteln. Vielleicht war das angesichts der politischen Bedeutung des Konzerts aber auch gar nicht so wichtig. Dass die meisterlichen Songs von „Os Mutantes“ live recht rumpelig klingen, liegt jedoch auch daran, dass die Platte, ähnlich wie „Sgt. Pepper“ von den Beatles, eine formvollendete Studio-Trick-Platte ist, voller Effekte, genial in Szene gesetzt von Brasiliens George Martin, von Rogério Duprat. Ohne dessen Zauberkünste klingen Os Mutantes zwangsläufig verhältnismäßig wenig elegant.

Mit Samba und Bossa Nova hatte die Band schon damals noch weniger am Hut als die anderen Künstler der Tropicália, aber nun scheinen auch die letzten Spuren brasilianischer Volksmusik getilgt worden zu sein. Os Mutantes spielen ein reines Rockkonzert, mit sehr viel Fuzz auf der Gitarre, mit Anleihen an die gute alte angloamerikanische Psychedelic und natürlich mit Referenzen an die Beatles und Jimi Hendrix, schon damals die wichtigsten Impulsgeber für Os Mutantes.

„Foxy Lady“ von Jimi Hendrix wird kurz zitiert und „Eleanor Rigby“ von den Beatles als Coverversion im Stile einer Punkband als Zugabe vorgetragen. Vielleicht ist das ja auch wieder vor allem eine politische Geste. Punk als Sound der Revolte und des Widerstands anzubieten, und dazu bitte nochmals alle im Publikum die Schilder in die Höhe: „Temer, hau ab!“

Andreas Hartmann