Ein anderes 1968

Literatur Kunstreligion und Bildkraft: Das Poesiefestival Berlin hat sich in diesem Jahr den Literaturen der Flucht und dem Verhältnis von Poesie und Widerstand verschrieben

Es braucht Wortkraft, um es mit den Realitäten aufzunehmen: US-Autorin Carolyn Forché auf dem Berliner Poesiefestival Fotos: gezett

von René Hamann

Lämpchen an. Es ist üblich, dass das Poesiefestival in der Hauptstadt stattfindet, und es ist üblich, dass sie den Raum zu Anfang ganz weit öffnet, nämlich mit dem „Weltklang“, der „Nacht der Poesie“. Dort werden üblicherweise kleine Lämpchen verteilt, damit man im Dunkeln mitlesen kann. Es ist ebenso üblich, dass dieser Eröffnungsabend sich einem besonderen Aspekt widmet (das war diesmal Poesie aus Nigeria), wie sich auch das gesamte Poesiefestival üblicherweise einem Motto verschreibt.

Das heißt diesmal vielleicht etwas unglücklich „Kein schöner Land“. Unglücklich, weil man nicht als Erstes das gleichnamige Volkslied aus dem 19. Jahrhundert assoziiert, sondern eine Volksmusiksendung der ARD, die sich nach diesem Lied benannt hat. Tatsächlich aber geht es um die Konflikte, die Welt und Medien in den vergangenen Jahren beherrschen, es geht um Migration und Angst, um Flucht und Vertreibung und um die Scheinlösungen von rechts. Das kann man etwas vorhersehbar finden, wie es die FAZ getan hat, man kann aber auch sagen: Gut, dass sich selbst die randständige Kunst der Lyrik der Realität, den Realitäten stellt, und gut, dass das auf möglichst großem Repräsentanzraum geschieht.

Also gab es bei diesem vielleicht nämlich etwas zu üblich gewordenen Event – es ist bereits die 17. Ausgabe des Festivals, und es kommt wie üblich mit Kiezlesungen, reichlich Musik und dem abschließenden Szenetreff, dem „Lyrikmarkt“, daher – Podien und Diskussio­nen, die sich mit „Poesie und Konflikt“ auseinandersetzten; mit „Literaturen der Flucht“ und mit „Poesie und Widerstand“, neben dem ganzen anderen Gedöns, denn groß und polyfon möchte das Poesiefestival, so beschaulich es mittlerweile auch ist, dann eben doch sein.

Bleiben wir also vorerst beim Interessanten. Bei der Literatur, die aus dem arabischen Raum kommt und die es mit den neuen Traditionen des globalen Kapitalismus, mit sozialen Netzwerken und den Ungleichheiten, der Religion, dem Terror, den ganzen umherschwirrenden, festen und losen Ambivalenzen aufnimmt, wie man am Montagabend hören konnte. Zum Beispiel.

Lyrik eines Irak-Veteranen

Stichwort Religion. Natürlich ist die Lyrikszene immer auch selbst von einem, sagen wir, kunstreligiösen Impetus bestimmt. Also fanden sich besonders Priesterinnen, die ordentlich mit Weihrauch schwenkten, um das Aparte, das Brückenschlagende, vielleicht gar die heilende Kraft der Poesie zu beschwören. Neben der beim „Dichter Abend“ auftretenden Monika Rinck war es der Amerikanerin Carolyn Forché vorbehalten, der kleinen Kirche der Poesie – nein, nicht die Messe zu lesen, sondern Selbstbewusstsein zu vermitteln. Und ja, dachte man beim Anhören ihrer Gedichte am Dienstagabend unter dem Motto „Poetry and Conflict“: Sie weiß, wovon sie spricht, nicht nur in Bezug auf besagte Realitäten. Sie hat auch die Wortkraft, die Sprachmacht, um es mit ihrer Poesie mit ­diesen Realitäten aufzunehmen.

Wie überhaupt die amerikanische Literatur vielen anderen immer noch weit voraus ist. Eben weil sie, wie man auch an den krassen, aber wahrnehmungsgenauen, sprachdetaillierten Gedichten des Irak-Veteranen Sergeant Brian Turner hören konnte, den Spagat schafft zwischen Literarizität, Wortmusik und Abbildungs- oder besser: Verbildlichungskraft. Andere Literaturen, auch das war an diesen Abenden in Berlin-Tiergarten zu hören, stecken da noch zu sehr in falsch verstandenen Romantiktraditionen.

Die Dichter/innen vom Balkan, die am Mittwoch unter dem Motto „Balkan Balcony“ diskutierten und vorlasen, nutzten die kleine Bühne dann nur allzu gern, um tatsächlich etwas Politisches zu sagen. Vielleicht muss man aus einem Transitland kommen, aus einer Region, die eh zwischen Ost und West, zwischen Anpassungswunsch und Abwehr steht, um klar zu sehen, worum es aktuell geht. Zum Beispiel um „falsche Adressaten“.

Hilfloser Widerstand

Es sind nicht die Migranten, die den Heimischen etwas wegnehmen, so die in London lebende Bulgarin Kapka Kassabova. Es ist die politische (dies gilt besonders für die Region) und die industrielle (dies gilt für den Westen) Klasse, die der eigenen Bevölkerung etwas wegnimmt, sie ausbeutet, nachgerade „beraubt“. Es tat gut, das zu hören – besonders, da es nicht nur in den hiesigen poetischen Landschaften indes oft um Formen von Weltflucht/en geht.

Vielleicht muss man diese Zeit auch als ein „anderes 1968“ verstehen: Viele Wahrheiten, Gewissheiten, Annahmen, Tradi­tionen des Westens werden von den hereinbrechenden Ereignissen einfach hinfortgespült. Das zeigt sich schon im Kleinen: Auch der Muff dieses „Üblichen“, hier das des kleinen und möchtegerngroßen Berliner Poesiefestivals, das in seinen Ticks, Tricks und Profilneurosen auch schon lange ziemlich eingefahren ist, wird in guten Momenten endlich überwunden, aufgelöst, aufgebrochen. Der Widerstand, der dadurch natürlich auch entsteht, ist als solcher politisch und sozial interessant. Hilft aber leider auch nicht.

Lämpchen aus.