Das Sterntaler-Mädchen der Gestapo

Musiktheater Die Neuköllner Oper erzählt die Geschichte der jüdischen Gestapo-Agentin Stella Goldschlag

Frederike Haas als Stella Goldschlag Foto: Matthias Heyde

von Julika Bickel

Stella träumt davon, nach Amerika auszureisen und ein Star zu sein. Sie singt: „Du wirst nachts von mir träumen!“ Fünf Männer tanzen um sie herum und bilden Wasserballett-Formationen wie bei Esther Williams. Eine Kamera filmt sie von oben, doch plötzlich liegt Stella auf einem Judenstern. „Den trag ich nicht!“, ruft sie empört und fragt das Publikum: „Würden Sie mich anspucken?“ Stella ist 20, als Hitler anordnet, Berlin „judenrein“ zu machen. Berühmt wird Stella nicht als Sängerin oder Schauspielerin, sondern als eine sogenannte Greiferin, als eine Jüdin, die andere Juden und Jüdinnen an die Gestapo verrät. „Das goldene Gespenst vom Kurfürstendamm“ nannte man sie oder „das blonde Gift“. Das sowjetische Militärtribunal verurteilte sie 1946 zu zehn Jahren Lagerhaft.

Die Neuköllner Oper hat aus dem historischen Material ein beeindruckendes Singspiel erschaffen, das am vergangenen Donnerstag Premiere hatte. Das Stück „Stella“ zeichnet eine vielschichtige Figur, die mal aus Liebe und Verzweiflung, mal aus Hass und Eigennutz handelt. Die klugen Texte von Peter Lund zeigen eine Person in ihrer Ambivalenz und brechen Kategorien sowie vermeintliche Gegensätze wie „Nazi“ und „Jüdin“, „der Engel“ und „das Böse“ auf. Frederike Haas spielt überzeugend eine junge Frau, die zwischen den Extremen schwankt. Ein Mensch, der bewundert, geliebt und gleichzeitig verachtet und gefürchtet wird. Ein Mensch, der andere und vor allem sich selbst belügt.

Diese Widersprüchlichkeit und Illusion, in der sich Stella bewegt, spiegelt sich auch in der Musik und im Bühnenbild. Das Stück beginnt als heiteres Musical, was sich zum einen unangemessen anfühlt, geht es doch um Verrat und Ermordung, und zum anderen stimmig, weil es eine Interpretation von Stellas Selbstbild darstellt. Die Live-Musik, komponiert von Wolfgang Böhmer, zeigt die Welt, wie sie sich Stella vorspielt: ein Leben als Show, in der sie der Star ist. Eine Männerwelt aus Liebhabern, Vater und Gestapo-Kommandant, in der sie sich begehrt und zugleich ausgenutzt fühlt. Das Orchester spielt viel Swing und Ragtime, aber auch Marschmusik der Nazis und Synagogalgesang. In der zweiten Hälfte kippt die Atmosphäre, und das Stück wird musikalisch düsterer.

Ein Bühnenkasten teilt das Publikum. Der untere Bereich der Wände ist aus Spiegelfolie. Wird der Raum ausgeleuchtet, kann man durch die Folie ins Innere sehen. Über Leitern können die Schauspielerin und die Schauspieler in den oberen Bereich gelangen, der mit weißen Projektionsflächen umgeben ist. Mehrere Live-Kameras übertragen Bilder aus dem Inneren auf die Leinwände des Kastens. Mit Schiebetüren lässt sich der Raum öffnen. Raffiniert vermittelt der Bühnenkasten verschiedene Gefühlsebenen und Lebenssituationen, wirft Fragen der Identität und Zugehörigkeit auf. Die Figuren feiern darin, sind gefangen, verstecken sich, beobachten und jagen sich.

Obwohl die Geschichte während des Nationalsozialismus spielt, ist sie an vielen Stellen erschreckend aktuell. Stellas Vater beantragt ein Visum für die USA, allerdings zu spät. Stella wirft ihm Gutgläubigkeit vor: „Du glaubst, keiner, der Schubert liebt, kann töten! Du bist so ein Träumer!“ Die Einwanderungsquote bestimmt, wie viele Menschen überleben und wie viele sterben. Stella verrichtet Zwangsarbeit, wird gefoltert, kann wieder fliehen, taucht unter. Als ihre Eltern im August 1943 deportiert werden sollen, stellt sie sich. „Eine Familie muss doch zusammenhalten!“, erklärt sie. Ein Gestapo-Kommandant erpresst sie mit dem Leben ihrer Eltern: Wenn sie als Greiferin arbeite, würden ihre Eltern nicht ins KZ kommen. Stella willigt ein und geht auf die Jagd.

Sie spürt immer mehr untergetauchte Jüdinnen und Juden auf

Mit gespieltem Charme spürt sie immer mehr untergetauchte Jüdinnen und Juden auf, bedroht sie mit ihrer Pistole und hält sie fest, bis die Gestapo kommt. Mit ihrem Seidenkleid fängt sie wie das Sterntaler-Mädchen die heruntergefallenen Judensterne auf.

Das Stück springt geschickt zwischen den Nachkriegsprozessen und ihrer Zeit als Gestapo-Agentin hin und her, viele Szenen beruhen auf Fakten, einige sind überspitzt. Ihre Tochter Yvonne, die bei jüdischen Pflegeeltern wohnt, konfrontiert sie in einem fiktiven Gespräch: „Sie sagen, du bist eine Mörderin.“ – „Sie lügen!“, antwortet Stella hysterisch. „Sie sind böse Menschen!“ Später konvertiert sie zur Christin. Das einzige Zeichen der Reue zeigt sie im fiktiven Gespräch mit dem gestorbenen Vater: „Ich weiß, dass ich was Böses getan habe. Wenn es einen Himmel gibt, komm ich da nicht rein.“

Als ihre Eltern schließlich doch deportiert werden, hört sie nicht auf, Menschen zu verraten. „Warum?“, fragt ein Richter beim Prozess vor dem Landgericht Moabit. Stella singt: „Ich hatte den Auftrag zu überleben. Ich bin der wahrhaft einzig deutsche Star!“

Weitere Termine: 29. 6., 2. 7, 3. 7., 8. 7. u. a.