Erinnerung

Polen nur als Opfer: So möchte die Regierung in Warschau Geschichte verstanden wissen. Doch die Fakten sind manchmal andere

Pogrome , Ritualmordlegenden und ein Massenexodus

Geschichte Vor 70 Jahren ermordete ein wütender Mob im polnischen Kielce mehr als 40 Holocaust-Überlebende. Fast alle Juden verließen danach ihre Heimat

2011 gab es in Polen 8.000 Juden.1.500 gehören als Gläubige jüdischen Gemeinden an

WARSCHAU taz | Während Auschwitz weltweit als Symbol für den vor allem von Deutschen begangenen Holocaust gilt, steht Kielce für den Nachkriegs-Antisemitismus in Polen. Der Mord an mehr als 40 Überlebenden des Holocaust und Sowjetunion-Heimkehrer läutete den Massenexodus der polnischen Juden ein. In Panik vor dem Hass der Nachbarn packten Zehntausende ihre Koffer und verließen das Land. Die Täter des Pogroms aber waren polnische Arbeiter, Hausfrauen, Passanten, Milizionäre, Soldaten und Agenten des Geheimdienstes.

Dabei hatten die überlebenden Warschauer Juden – wenige tausend von einst 350.000 – noch am 19. April 1946, dem dritten Jahrestag des Warschauer Ghettoaufstandes, ein kleines Denkmal für die von den Nazis ermordeten Juden eingeweiht und dabei Antwort auf die Frage gegeben: „Wie soll es nun weitergehen?“ Neben Palm- und Ölzweig, den Symbolen für Frieden und Neuanfang nach der Sintflut, steht dort der erste Buchstabe der hebräischen Bibel – „bet“. Die Überlebenden der einst 3,5 Millionen Juden in Polen wollten von vorne anfangen: „Bereschit … Am Anfang schuf Gott den Himmel und die Erde“.

Doch nur drei Monate später, als ein Gerücht über einen Ritualmord an einem katholischen Kind das Pogrom von Kielce auslöste, war für viele polnische Juden klar, dass es in ihrer alten Heimat keine Zukunft mehr geben würde. Trotz Bitten an die katholische Kirche, die Gläubigen darüber aufzuklären, dass Juden kein Blut von Christenkindern für die Produktion von Matzebrot aus Mehl und Wasser brauchten, schwiegen fast alle Bischöfe. So löste die Ritualmordlegende in mehreren polnischen Städten weitere Pogrome aus, wie in Krakau und Rzeszów. Anderswo, so in Lublin, Włocławek und Tschenstochau, konnten Morde nur in letzter Minute verhindert werden.

In mehreren großen Emigrationswellen verließen die rund 300.000 überlebenden polnischen Juden ihre einstige Heimat. Heute leben in Polen noch schätzungsweise 30.000 Juden. Bei der letzten Volkszählung im Jahre 2011 gaben 8.000 Menschen an, Juden zu sein. Rund 1.500 gehören als gläubige Juden den orthodoxen und liberalen Gemeinden Polens an.

In diesem Monat steht noch ein zweiter schwieriger Jahrestag an: Am Sonntag, dem 10. Juli, jährt sich zum 75. Mal das Pogrom von Jedwabne. Kurz nach dem Einmarsch der Wehrmacht in die Sowjetunion und damit auch in die bis dahin sowjetisch besetzten Territorien Polens stellten SS-Männer die Einwohner von Jedwabne vor die Wahl, entweder selbst ihre jüdischen Nachbarn zu ermorden und dann deren Eigentum unter sich aufzuteilen oder auf die Ankunft der neuen Besatzungsmacht zu warten, die dann die Juden ermorden würde.

Nicht alle, aber viele Jedwabner nahmen den Mord an ihren jüdischen Nachbarn in die eigenen Hände. Mit Äxten, Sicheln und Mistgabeln gingen sie auf jüdische Frauen, Kinder und Männer los. Die meisten Juden aus Jedwabne verbrannten bei lebendigem Leib in einer alten Scheune am Ortsrand. Wie viele Opfer es gab, ist bis heute nicht geklärt. Die Zahlen schwanken von 400 bis 1.600. Ähnliche Kriegspogrome – mit und ohne Anstiftung der Deutschen – gab es in über 70 Städten Polens. Der Historiker Jan Tomasz Gross hat das Pogrom von Jedwabnwe mit „Nachbarn“ weltweit bekannt gemacht. Gabriele Lesser