Balzers Poplesung
: Geknickter Phallus ruft nach Mama

Balzer disst unterhaltsam, aber er zeigt auch seine Liebe

Der Schriftsteller, der die Berliner Zeitung abonniert hat, um alle zwei Tage einen Balzer lesen zu können, sagt, der Autor habe jetzt auch im Vortrag seinen Flow gefunden. Vom Flow gebannt, lauscht das Publikum am Donnerstagabend in der vollen, überhitzten, angemessen spärlich beleuchteten Kantine des Berliner Berghain, als der Journalist Jens Balzer erstmals aus seinem Buch „Pop. Ein Panorama der Gegenwart“ (Rowohlt Berlin) vorliest.

Es bricht aber auch in lautes Lachen aus, wenn der bärtige Balzer mit sonorer, vom Rauchen granulierter, norddeutsch modulierter Stimme einen seiner bilderreichen, barock-verschraubten, aber präzisen Sätze über Rocker liest, die auf der Bühne nicht mehr bringen, was sie sollen, und mit „geknicktem Phallus“ nach Mama rufen.

Oder über Frauen wie Céline Dion, die ihr performatives Soll übererfüllen: „Wann immer Dion einen ihrer berüchtigten Ich-kann-diesen-Ton-länger-als-eine-Minute-halten-Vokalstunts absolviert hat, schlägt sie sich stolz auf den Kehlkopf wie Tarzan auf die Brust und reißt den angewinkelten linken Arm nach unten wie ein Bauarbeiter, der eine Toilettenspülung betätigt.“

Balzer disst unterhaltsam und offenbart seine Liebe zu den Avantgardisten des Pop. Heute sind das für ihn vor allem junge Frauen, die in der Demokratisierung der musikalischen Produktionsmittel eine emanzipatorische Chance sehen, die sie beherzt ergreifen. Balzers Fans wiederum schätzen ihn für die Gabe, seine Analysen von Subjektentwürfen angelsächsisch-nonchalant in eine Erzählung einfließen zu lassen, die auf eigener Anschauung ba­siert. Hinter der Bühne läuft eine Diashow mit Konzertaufnahmen von Roland Owsnitzki, seit 15 Jahren Balzers fotografierender Sidekick. Gemeinsam checken sie zwei-, dreimal pro Woche den Stand der Dinge. Wenn Balzer dann im „nihilistischen Postfeminismus“ Helene Fischers und im identitären Pop von Freiwild ein Spiegelbild unserer Gesellschaft aufscheinen lässt, hat der Popkritiker einmal mehr die selbst gestellte Aufgabe erfüllt, uns von der Gegenwart zu berichten. Und der Flow, der fließt bei Balzer sowieso. Ulrich Gutmair