Leistungsgesellschaft und Schwäche: Kann Angst ein Freund sein?

Sich zu fürchten, gilt als schwach. Der Staatstheoretiker Thomas Hobbes glaubte noch, erst Furcht führe Menschen zusammen. Was ist gut an Angst?

Mehrere Menschen überqueren eine Hängebrücke im Wald

Angst vor dem dunklen Wald. Angst vor der Höhe. Warum nicht mal beides auf einmal spüren? Foto: dpa

Er ist vom Weg abgekommen, dreht sich um die eigene Achse, ihn schwindelt, er blickt hoch in die Baumkronen. Der Wald ist dicht und finster. In den Schatten der Bäume nimmt er Bewegungen wahr. Sind das die Augen wilder Tiere, die da zwischen den Baumstämmen aufblitzen? Den jungen Mann packt das blanke Entsetzen. Die Furcht droht in zu überwältigen.

So beginnt die „Göttlichen Komödie“, das Hauptwerk des italienischen Dichters Dante Aligheieri, ein Buch, das die meisten heute vor allem als die prototypische Darstellung der biblischen Hölle kennen, aber für Dante ist es auch ein Weg, die eigene existentielle Angst poetisch zu verarbeiten.

Diese Angst wird zu seinem ständiger Begleiter, da ist er gerade 35 Jahre alt. Er musste aus seiner Heimatstadt Florenz fliehen, in der seit vielen Jahren Bürgerkrieg herrscht. Die Gesellschaft ist tief gespalten, Anhänger des Papstes kämpfen mit denen des Kaisers. Der junge Dante schreibt von Unsicherheit, Verrat und Habgier. Seine Jugendliebe ist gestorben, das behauptet er jedenfalls, nachprüfen können wir das heute nicht mehr. Er feiert die Nächte durch und trinkt bis zur Besinnungslosigkeit. Er wird hart gegen sich selbst und andere. Irgendwann erschien ihm das Leben nur noch sinnlos.

Dem Dichter fehlte der Therapeut

„Ich starb nicht, und doch blieb ich nicht lebendig“, schreibt Dante über sich in der Tiefe der untersten Hölle.

„Kein Schmerz ist größer, als sich der Zeit des Glückes zu erinnern, wenn man in Elend ist“, lässt er Francesca da Rimini sagen, die er im fünften Höllenkreis trifft und die von ihrem Ehemann erstochen wurde, weil er sie mit seinem Bruder erwischt hat.

Weil er ein genialer Dichter war, konnte Dante Alighieri seine Gefühle so ausdrücken, dass wir uns auch mehr als 700 Jahre später in ihm wiedererkennen.

Die Angst kann sie jederzeit einholen. In der U-Bahn, am Schreibtisch, im Café. Wie unsere Autorin lernte, ihre Angst zu lieben, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 13./14. August 2016. Außerdem: Um Bio-Eier möglichst günstig zu produzieren, nutzen einige HalterInnen alle Grauzonen der EU-Richtlinien. Wie viel bio steckt im Öko-Ei? Und: Die Türkei zwischen "Säuberung" und Märtyrerverehrung. Pınar Öğünç über eine Gesellschaft, in der sich eine Hexenjagd-Atmosphäre einzurichten scheint. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Lebte er zur heutigen Zeit, man hätte ihm wohl eine Angststörung diagnostiziert. Sogar mit einem recht klassischen Verlauf: Das durchschnittliche Ersterkrankungsalter bei generalisierter Angststörung liegt heute bei 35 Jahren. Heute könnte ein Arzt dem verstörten Dichter gegenüber sitzen und eine Diagnose in seinen PC eintippen. F40 Phobische Störung: Panikstörung und generalisierte Angststörung. Gemäß der S3-Leitlinie „Behandlung von Angststörungen“ würde der Arzt vielleicht eine Psychotherapie vorschlagen und 20 bis 40 Milligramm Citalopram verschreiben. Vielleicht würde er Dante sogar raten, zu therapeutischen Zwecken seine Gefühle aufzuschreiben.

Dante hatte weder Arzt noch Therapeut, als er um 1300 begann, an seinem Hauptwerk der Göttlichen Komödie zu arbeiten. Er hatte seine Phantasie und seine Erinnerungen. Die Autorin unserer Titelgeschichte in der der taz. am Wochenende vom 13./14. August 2016 hat professionelle Hilfe und doch hilft auch ihr, über ihre Angststörung zu schreiben. Sie leidet seit Jahren unter Ängsten, die sie überall erreichen können. Im Café, in der U-Bahn, wenn sie auf der Arbeit vor Kollegen sprechen soll.

Die Angst macht Staaten

Durch ihren Text tritt sie in Kontakt mit einer Welt, vor der sie sich oft aus Furcht zurückgezogen hat. Sie öffnet sich, macht sich verletzlich. Und sieht, dass die Angst vielleicht niemals ihr Freund werden wird. Aber doch ein nützlicher Begleiter.

Angst zu haben, gilt in unserer Gesellschaft als Zeichen von Schwäche. Aber Gefühle wirken auch, wenn man sie leugnet. Sowohl individuell als auch gesellschaftlich. Sie brechen irgendwann doch hervor, oft in in gesteigertem Maße. Sie könenn sich gegen den eigenen Körper wenden und Krankheiten verursachen.

Staatstheoretiker stellen die Angst seit Jahrhunderten in den Mittelpunkt ihrer Überlegungen. Für Thomas Hobbes ist es erst die Furcht vor dem Tod, die die Menschen zu einem Gemeinwesen zusammentreibt.

Aber wie sollte eine Gesellschaft mit individueller Angst umgehen? Wie sähe eine angstfreie Gesellschaft aus? Ist das überhaupt ein erstrebenswertes Ziel?

Diskutieren Sie mit.

Die Titelgeschichte „Wie ich lernte, die Angst zu lieben“ lesen Sie in der taz.am Wochenende vom 13./14. August 2016.

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