Sie verweigert den Wehrdienst

LESUNG Die Autorin Jutta Schwerin sprach in Berlin über ihr Leben in Deutschland und Israel

Als Jutta Schwerin einberufen wird, schreibt sie einen Brief an den Ministerpräsidenten. Als Tochter einer nichtjüdischen Mutter sei sie in mancher Hinsicht eingeschränkt, sie dürfe keinen jüdischen Mann heiraten, ohne vorher zu konvertieren. Zugleich solle sie dem Staat Israel als Soldatin dienen. „Liegt da nicht ein gewisser Widerspruch vor?“ David Ben Gurion schreibt zurück: „In unser aller Augen bist Du ein jüdisches Mädchen wie jede von unseren Töchtern.“ Sie solle sich von formalen Widersprüchen nicht betrüben lassen.

Jutta Schwerin aber gibt nicht auf, trifft Ben Gurion und wird schließlich vom Militärdienst befreit. Wenn sie wie am Dienstagabend im Jüdischen Museum mit ruhiger Stimme aus ihrer jüngst erschienenen Autobiografie vorliest, kann man sich gut vorstellen, dass diese Frau sich nicht so leicht beirren lässt. Außerdem, gibt sie zu, habe es ihr Spaß gemacht, mit so wichtigen Leuten zu diskutieren. „Ricardas Tochter. Leben zwischen Deutschland und Israel“ (Spector Books, Leipzig, 2012) heißt ihr spannendes, mit einem feinen Humor geschriebenes Buch, aus dem man viel über Israel und Deutschland lernen kann.

1941 wird sie als Tochter von Heinz und Ricarda Schwerin in Jerusalem geboren. Die Eltern wurden aus politischen Gründen vom Studium am Bauhaus ausgeschlossen, 1935 verließen sie Deutschland. Das Paar ging nach Palästina (Eretz Israel), wie das britische Mandatsgebiet damals offiziell hieß, weil sich keine bessere Möglichkeit bot. Die Tochter beschreibt die Eltern als überzeugte Linke und Atheisten, aber auch als Individualisten und „Integrationsverweigerer“, die dem Kind Deutsch beibringen und selbst kein Hebräisch lernen. Die Tochter lernt es auf der Straße.

Jutta Schwerin wird Mitglied von Hashomer Hatzair, des „Jungen Wächters“, der Jugendorganisation des marxistisch-zionistischen Flügels der Kibbuzbewegung. Die Tochter glaubt, das sei im Sinne der Mutter, doch diese reagiert ablehnend. Das ist ein Motiv, das in „Ricardas Tochter“ öfter wiederkehrt. 1948 stirbt Jutta Schwerins geliebter Vater. Er wird zum „Idealbild“, die Mutter zur wesentlichen Bezugsperson. „Alles, was ich gemacht habe, war in ihrem Sinne, bewusst oder unbewusst, weil ich dachte, das würde sie gut finden“, erzählt Jutta Schwerin. Ihr Buch ist eine doppelte Biografie, wie der Moderator des Abends, Fabian Schedler, anmerkt.

1962 zieht die Tochter nach Deutschland und studiert in Stuttgart. Sie wird von einer Kommilitonin gefragt, wie sie denn hier leben könne, nach allem, was passiert sei. Schwerin fragt zurück: „Wie kannst du denn hier leben, nach allem, was passiert ist?“ Die junge Frau nimmt an Ostermärschen teil und engagiert sich später als Ulmer Stadträtin in der Wohnungspolitik. 1980 tritt sie wegen des Nato-Doppelbeschlusses aus der SPD aus, drei Jahre später bei den Grünen ein. Als erste offen lesbische Bundestagsabgeordnete provoziert sie 1988 eine Debatte darüber, wie Schwule und Lesben in Dokumenten des Parlaments genannt werden sollen.

Die Besatzung muss enden

Vom Publikum zum Nahostkonflikt befragt, lässt Schwerin keinen Zweifel daran, dass die Besetzung „das Schlimmste ist, was sich die Bevölkerung selber antut“. Aber es müsse einen jüdischen Staat geben, in dem Hebräisch Hauptsprache ist, aus dem schlichten Grund, weil es Antisemitismus gibt. „Das Land wäre gefährdet, wenn die jüdische Bevölkerung nicht mehr in der Mehrheit wäre“, sagt sie. An die Lebensfähigkeit eines in Gaza und Westjordanland geteilten palästinensischen Staats glaubt sie nicht. Die Menschen dort würden unzufrieden und Israel würde gefährdet bleiben.

Schwerin plädiert dafür, die besetzten Gebiete zurückzugeben und das Westjordanland und Gaza wieder in Jordanien und Ägypten einzugliedern. Außerdem müssten die palästinensischen Flüchtlinge endlich in den Aufnahmeländern integriert werden. Zur Not müssten Israel und Jordanien in die EU aufgenommen werden. Das sind vernünftige Überlegungen – dass sie Eingang in den politischen Diskurs finden, hält Schwerin aber für unwahrscheinlich. Die Europäer verkauften lieber Waffen, als an der Lösung des Problems zu arbeiten.

Der Nahostkonflikt, diese „ewige Kette von Menschenrechtsverletzungen“, die von beiden Seiten begangen werden, kann militärisch nicht gelöst werden, meint sie. Ricardas Tochter ist Wehrdienstverweigererin geblieben. ULRICH GUTMAIR