Klassiker der Reiseliteratur: Gewaltmarsch durch Amerikas Süden

Der Bericht des Spaniers Álvar Núñez Cabeza de Vaca ist eine irre Geschichte und ein frühes Zeugnis der spanischen Eroberungszüge in Amerika.

Gedenktafel für Cabeza der Vaca. Er wurde 1540 zum Gouverneur der spanischen Kolonie am Río de la Plata und im heutigen Paraguay ernannt. Hier entdeckte er als erster Europäer die Wasserfälle von Iguaçu. Foto: Calyponte

Sie suchten Gold und strandeten in den Sümpfen Floridas. Im Juni 1527 brachen sie von Spanien auf, um das Land an der Küste des Golfs von Mexiko zu erkunden. Pedro de Narváez ist der Kommandant, Álvar Núñez Cabeza de Vaca der Schatzmeister. Die meisten der 500 Spanier, die mit ihnen in die neue Welt fuhren, starben. „Beim Anblick unseres Unglücks setzten sich die Indianer mitten unter uns nieder und begannen aus Schmerz und Kummer über den Anblick unseres Schicksal alle heftig zu weinen“, schreibt Vaca.

„Schiffbrüche – die Unglücksfahrt der Narváez-Expediton nach der Südküste Nordamerika“ ist in der Edition Erdmann 2015 erschienen. Ein Klassiker der Reiseliteratur und der Bericht einer strapaziösen Reise durch den völlig unerforschten Süden Nordamerikas. Ein ethnologisches Fundstück, das ungefiltert die Begegnung mit Indianerstämmen, die heute längst ausgestorben sind, beschreibt.

Ein Buch aus der Edition Erdmann, die 100 andere „kühne Reisende“ wie Gertrude Bell oder jüngst Stephan H. Long verlegte. Die Entdecker-Reihe aus dem Erdmann Verlag erzählt von untergegangenen Kulturen, verlorenen Tieren und Pflanzen. Und davon, was für ungeheuerliche Strapazen Menschen unterwegs aushielten, unvorstellbar in Zeiten der Pauschalreise zu den entlegensten Winkeln der Erde.

Unter Indianern

Sechs Jahre lang lebt der Konquistador Cabeza de Vaca unter Indianern. Zunächst allein als Sklave. Er flieht und fristet sein Dasein als Händler. Muschelschalen von der Küste tauscht er gegen Tierfelle und roten Ocker zur Gesichtsbemalung. Er verkauft Feuerstein für Pfeilspitzen, Klebstoff von Pflanzen und Quasten aus Tierhaar: „Es gab mir die Freiheit, dahin zu gehen, wohin ich wollte“, schreibt er.

Er kommt herum und erfährt viel. Zum Beispiel das Entsetzen der Indianer über einen Kannibalismus-Vorfall unter Christen: „Fünf Christen, die in einer Hütte an der Küste hausten, gerieten in solche Not, dass sie ein­ander aufaßen, bis nur noch einer am Leben blieb. Hierüber wurden die Indianer so aufgebracht, und es kam unter ihnen zu einer derartigen Aufregung, dass sie zweifellos, wenn der Vorfall gleich anfangs zu ihrer Kenntnis gekommen wäre, die Männer erschlagen und wir uns alle dadurch in eine große Notlage versetzt gesehen hätten.“

Vaca trifft andere Schiffbrüchige wieder. Mit ihnen will er sich zu seinen Landsleuten nach Neuspanien, dem heutigen Mexiko, durchschlagen. Mit christlichen Ritualen machen sie sich bei den Indianern einen Namen als Medizinmänner. „Unsere Art des Heilens war, über ihnen das Zeichen des Kreuzes zu schlagen, sie anzublasen, ein Vaterunser und ein Ave Maria hinterherzujagen und inbrünstig Gott, unseren Herrn, zu bitten, sie gesund werden zu lassen.“ Die Methode setzte offensichtlich ungeahnte Selbstheilungskräfte frei. Jedenfalls eilte dem versprengten Trupp der Ruhm als Heiler voraus.

Erfahrungssplitter von untergegangenen Stämmen

Cabeza de Vaca und seine Kumpanen werden auf ihrer Wanderung durch den Süden Amerikas Zeugen indianischer Sitten, die noch völlig unberührt vom Einfluss des heute viel geschmähten weißen Mannes sind.

„Dieses Volk liebt am meisten auf der Welt seine Kinder und behandelt sie aufs Beste. Wenn zufällig irgendjemandem sein Kind stirbt, beweinen es die Eltern, die Verwandten und das ganze Dorf. Das Weinen dauert ein volles Jahr … Alle Toten beweinen sie in dieser Weise, außer den Alten, mit denen sie keine Umstände machen. Denn man sagt, sie hätten bereits ihre Zeit hinter sich, und von ihnen hätte man keinen Nutzen weiter, sie nähmen vielmehr nur das Land für sich in Anspruch und den Kleinen die Nahrung weg.“

Über einen anderen Stamm schreibt er: „Bei ihnen tragen die Männer keine Lasten oder irgendetwas Schweres. Das tun vielmehr die Weiber und die Alten, das heißt, die Leute, die am geringsten in ihrer Achtung stehen. Ihre Kinder lieben sie nicht so sehr wie der Stamm, von dem wir oben sprachen. Einig unter ihnen frönen unnatürlichen Lastern.“

Diesen Lastern begegnet der Christ Vaca immer wieder: „Zur Zeit meines Aufenthalts unter ihnen sah ich ein Teufelswerk, nämlich einen Mann mit einem anderen verheiratet. Das sind kastrierte und impotente Männer. Sie gehen wie Frauen gekleidet, führen Frauenarbeiten aus.“

Auch die Familienverhältnisse wundern den spanischen Katholiken: „Allgemein hat man die Sitte, seine Frau zu verlassen, wenn es untereinander kein Einvernehmen gibt; man verheiratet sich wieder, mit wem man mag. So geschieht es unter den Kinderlosen, wer aber Kinder hat, bleibt bei seiner Frau und verlässt sie nicht.“

Die Beobachtung Vacas sind Erfahrungssplitter. Er beschreibt die Indianer direkt, unverblümt und in ihrer ganzen von ihm wahrgenommenen Ambivalenz. Seine indianischen Protagonisten sind fröhlich und freundlich, feindlich und missgünstig. Doch im Gegensatz zu seinen goldbesessenen und mordenden Landsmännern sieht er sie als Menschen und nicht als unzivilisierte Wilde. Vaca nimmt ungewollt ihre Perspektive ein.

Kritik an den spanischen Eroberern

Sein kleiner Trupp, nackt und barfüßig, leidet unter den gleichen Entbehrungen. Hunger ist ihr täglicher Begleiter, Teil des Indianerlebens. „Die Indianer aßen die Früchte des Feigenkaktus, Spinnen und Ameiseneier, Würmer, Eidechsen, Schlangen und selbst Hirschdung.“

Die Strapazen des Álvar Núñez Cabeza de Vaca und seiner Kumpanen sind unvorstellbar, die Bedingungen ihrer Reise gnadenlos. Vaca erzählt dar­über, nachdem er sie glücklich überstanden hat, völlig undramatisch. Und für das Weltbild seiner Zeitgenossen sehr einfühlsam den Indianern gegenüber:

„Auch erzählte man uns, wie ein anderes Mal die Christen ins Land gekommen seien, es verwüsteten, die Dörfer verbrannten, die Hälfte der Männer, alle Frauen und Kinder fortgeschleppt hätten und dass die, welche ihren Händen hätten entrinnen können, entflohen seien. Wenn wir sie so niedergeschlagen sahen, ohne zu wagen, sich irgendwo niederzu­lassen, und wenn wir sahen, wie sie weder säen wollten noch konnten, auch nicht das Land bestellten, vielmehr entschlossen ­waren, sich lieber dem Tod zu ­über­lassen, als weiter mit solchen Grausamkeit behandelt zu werden, da erstaunten wir, dass sie uns gegenüber doch das größte Entgegenkommen zeigten.“ So hat selten ein Konquistador über die Indianer gesprochen.

Vacas Reisebericht spricht die gleiche Sprache wie die Aufzeichnungen Bartolomé de Las Casas, der Dominikaner-Mönch, der zur selben Zeit über die frühen Jahre der spanischen Konquista, deren Augenzeuge er war, kritisch berichtete.

Las Casa war einer der Ersten, der sich für die Rechte der Indianer im Mutterland Spanien einsetzte.

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