Jahrestag antisemitischer Diskriminierung: „Judenstern“ als befohlenes Stigma

Mit der Kennzeichnung 1941 begann der systematische Mord an mindestens sechs Millionen Juden. Sie war die letzte einer Reihe von Ausgrenzungen.

David Monk (l) und Mordechai Fuchs (r) tragen einen Trauerkranz

Die Holocaust-Überlebenden David Monk (l) und Mordechai Fuchs (r) im Jahr 1997 Foto: dpa

BERLIN taz | Die Verordnung vom 1. September 1941, die alle noch im Deutschen Reich lebenden Juden vom sechsten Lebensjahr an zwang, ab 17. September ein stigmatisierendes Kennzeichen, den „Judenstern“ zu tragen, war nicht nur ein Rückfall in finstere Zeiten. Sie bildete vielmehr das letzte Glied einer Kette von Maßregeln, Ausgrenzungen und Verboten, mit denen die im Januar 1933 an die Macht gekommenen Nationalsozialisten die Emanzipation der deutschen Juden rückgängig machten. Diese – in der Reichsverfassung 1871 spät genug kodifizierte – Emanzipation war mühsam errungen und in der Praxis auch nur unvollkommen durchgesetzt worden.

Politisch organisierte und publizistisch agierende Antisemiten kämpften dagegen, die Juden als vollberechtigte Staatsbürger in der Nation willkommen zu heißen. Die Ausgrenzung der Juden begann deshalb schon zur selben Zeit wie ihre Aufnahme in die Gesellschaft der Deutschen. Studenten verweigerten Juden die Mitgliedschaft in ihren Kooperationen, in vielen Seebädern und Kurorten, Hotels und Pensionen waren jüdische Gäste ausdrücklich unerwünscht.

Im öffentlichen Dienst, in der Justiz, beim Militär blieb die Taufe eine nahezu unerlässliche Voraussetzung jeder Karriere – aber jüdische Offiziere im Generalstab suchte man trotzdem vergeblich, vornehme Clubs blieben Juden verschlossen. Erst in der Weimarer Republik schien – trotz öffentlich artikulierten antisemitischen Radaus – die rechtliche und soziale Position der Juden unangefochten.

Das änderte sich schlagartig, als Hitler zum Chef einer aus Konservativen (DNVP) und Rechtsradikalen (NSDAP) bestehenden Reichsregierung ernannt wurde. Mit dem „Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ verloren Juden (wie Sozialdemokraten und Kommunisten) den Arbeitsplatz im öffentlichen Dienst. Das war im April 1933. Fast gleichzeitig bekamen jüdische Anwälte per Gesetz Berufsverbot. Dann wurden jüdische Ärzte und jüdische Viehhändler brotlos. Die Nürnberger Gesetze vom September 1935 entzogen allen deutschen Juden die vollen Rechte als Reichsbürger und grenzten sie durch das Heiratsverbot mit „Ariern“ auch sozial aus.

Ein „J“ in den Reisepässen

Wenig später wurde in die Reisepässe deutscher Juden ein „J“ gestempelt. Juden wurden zwangsweise mit den Vornamen „Sarah“ und „Israel“ markiert. Zur Diskriminierung gehörte es, dass der aufgezwungene Vorname persönlich beantragt werden musste, die Prozedur der Namensänderung gebührenpflichtig war und als Demütigung gestaltet wurde.

Noch zielte die nationalsozialistische Politik aber nicht auf Vernichtung, sondern auf die Vertreibung der ungeliebten Minderheit. Die Inhaftierung von 26.000 Männern aus dem jüdischen Bürgertum in Konzentrationslagern sollte nach der „Reichskristallnacht“ die Auswanderung forcieren: Während die Männer – Rechtsanwälte und Ärzte, Juristen und Kaufleute – im KZ misshandelt wurden, jagten ihre Frauen nach Visa und Schiffspassagen, Bürgschaften und anderen Notwendigkeiten einer Emigration.

Nach Beginn des Zweiten Weltkriegs gab es ab Herbst 1939 jedoch kaum noch Chancen für Juden, Deutschland zu verlassen. Dafür gingen weitere Schikanen, staatlich inszeniert, über sie nieder: Die Verbote, Haustiere zu halten, Radios zu besitzen, Autos zu fahren, gehörten zu den sinnlosen Plagen, die sich stumpfe Bürokraten ausdachten, so wie karge Lebensmittelrationen und reglementierte Einkaufszeiten. Die „Arisierung“, die Enteignung der Juden, wurde unmittelbar nach den Novemberpogromen vorangetrieben.

Das Auswanderungsverbot signalisierte im Herbst 1941, ebenso wie die Markierung mit dem Judenstern, das neue Ziel nationalsozialistischer Politik: den Genozid. Der Beschluss zur „Evakuierung“ und „Endlösung“ datiert vom Sommer 1941. Die Deportationen, getarnt als „Umsiedlungen in den Osten“, begannen im Herbst 1941.

Kostenpflichtige Kränkung

Das handtellergroße Kennzeichen „Judenstern“ erleichterte den Schergen die Arbeit und erschwerte den Opfern die Flucht. Jüdische Organisationen waren für die Verteilung auf die jüdischen Haushalte verantwortlich. Aus großen Stoffbahnen wurde die benötigte Anzahl der gelben Flecken mit dem Davidstern und dem Wort „Jude“ in hebräisierender Schrift ausgeschnitten und an die Kleidung genäht. Natürlich war auch diese Kränkung kostenpflichtig.

Erprobt war das Verfahren der Kennzeichnung von Juden im okkupierten Polen. Erfunden hatten die Nationalsozialisten das Markieren Unerwünschter nicht: Das Laterankonzil 1215 schrieb den Angehörigen der jüdischen Minderheit die äußere Kennzeichnung zur Unterscheidung von den Christen vor.

Als gelber oder roter Fleck wurde das Stigma zuerst in England und Spanien, dann überall eingeführt. In manchen Regionen des mittelalterlichen Europas mussten die Juden einen auffälligen Hut tragen. Mit der Aufklärung endete im 18. Jahrhundert die entwürdigende Vorschrift.

Ihre Wiederbelebung durch die Nationalsozialisten hatte aber auch eine andere Qualität. Die einstige Ausgrenzung im Zeichen des christlichen Antijudaismus verwies die Juden in eine Parallelgesellschaft, ins Ghetto. Die am 1. September angeordnete und ab 17. September 1941 praktizierte Kennzeichnung aller Juden ab dem 6. Lebensjahr war eine der Maßnahmen, die den inszenierten und systematisch realisierten Mord an mindestens sechs Millionen Menschen einleiteten, mit dem Juden vernichtet wurden, weil sie Juden waren. Mit der oktroyierten öffentlichen Stigmatisierung der Opfer durch den „Judenstern“ hatte der Holocaust begonnen.

Wolfgang Benz ist emeritierter Professor am Berliner Zentrum für Antisemitismusforschung

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