Der Sänger Gero Ivers – von allen nur Stumpen genannt – hatte ungewöhnliche Betätigungen, bevor er Aushängeschild von Knorkator wurde: Sängerknabe an der Staatsoper, Milchtütenverteiler und Klo- putzer. Stumpen über nervige Metropolenhektik und das beschauliche Friedrichshagen, eigentümliche Musik und derbe Bühnenshows
: „Ich war der einzige Junge im Mädchenchor“

Mit Sohn und Schwalbe zum Müggelsee: „Für mich ist die 250 Jahre alte Wohngegend mit den schönen alten Häusern und dem vielen Grün die schönste Ecke von Berlin“, sagt Knorkator-Sänger Gero Ivers alias Stumpen. „Ich habe hier meine Ruhe“

Interview Gunnar Leue
Fotos Ksenia Les

taz: Unten auf der Straße hängen lauter Wahlplakate, auf denen viel von Heimat die Rede ist. Wie heimatlich ist Friedrichshagen für dich?

Gero Ivers alias Stumpen: Für mich ist die 250 Jahre alte Wohngegend hier mit den schönen alten Häusern und dem vielen Grün die schönste Ecke von Berlin. Ich habe hier meine Ruhe, kenne meine Nachbarn, den Obstverkäufer und die Leute von der Post mit Namen. Und mit dem Fahrrad bin ich schnell am Müggelsee, im Studio unseres großartigen Produzenten Henk oder im Atelier von Alf Ator. Ich fühle mich immer noch wohl, obwohl sich auch hier einiges geändert hat.

Gentrifizierungswahnsinn also auch hier?

Nachdem der Dornröschenschlaf zu Ende ist und der Bestand an verfügbaren Häusern verhökert war, wird jetzt jede freie Lücke verscherbelt und mit Betonklötzen zugeschissen. Der Mietspiegel ist gigantisch in die Höhe geschossen, und wer noch einen alten Mietvertrag besitzt, hat Glück. Nachdem ich meine alte geliebte, noch bezahlbare Wohnung an den neuen Eigentümer abtreten musste, war ich auch den Spielchen der Hausbesitzer ausgeliefert. Man ist als Wohnungsuchender gezwungen, sich den zumeist fragwürdigen Vergaberichtlinien der Eigentümer zu beugen. Da kommt ein Jemand von irgendwo daher und sagt mir, dass ich hier nicht wohnen kann, weil ich kein Angestelltenverhältnis mit gesichertem Einkommen habe oder weil ich tätowiert bin. Aber irgendwann habe ich dann doch noch eine tolle Butze gefunden, und ja, auch wenn sich der Menschenschlag hier teilweise geändert hat, liebe ich mein Friedrichshagen.

Dein Wohlfühlanspruch und die beschauliche Umgebung, in der die Knorkator-Songs entstehen, sind ein ziemlicher Kontrast zu eurer Nichtwohlfühlmusik und zu euren derben Bühnenshows. Gibt es trotzdem einen Zusammenhang?

Da Alf komponiert und textet, müsstest du eigentlich ihn fragen, ob seine Ideen von der Umgebung abhängig sind. Ich sehe keinen Zusammenhang und glaube, die Gegend ist für die Entstehung eines Songs egal.

Die überdrehte Stadt als Inspiration für überdrehte Musik – braucht ihr nicht?

Berlin ist sicher was Besonderes, mir aber zu laut, zu hektisch, zu teuer, zu nervös, zu verbaustellt. Ich glaube, Island wäre da für mich inspirierender. Vielleicht, weil ich das nicht kenne.

Wie erklärst du dir selbst die extreme Diskrepanz zwischen deinen Eskapaden als Bühnenirrer und deinem charmantem Auftreten als Alltagsbürger?

Ich sehe da keine Diskrepanz, auch wenn ich auf der Bühne hin und wieder meine Sperenzchen mache. Im Alltag und auf der Bühne bin ich ein und derselbe, und während die einen ihre Aggressionen im Alltag rauslassen, beim Fußball oder indem sie jemandem aufs Maul boxen, habe ich Gott sei Dank die Band und benutze die Konzerte als Ventil. Klar, wenn ich so aus fünf Meter Höhe irgendwo reinspringe oder wenn ich mir mal hinterher anhöre, welchen Mumpitz ich bei einem Konzert erzähle, dann erkenne ich mich manchmal selbst nicht wieder.

Kollege Alf Ator nennt euch einen Haufen alter Säcke, die nur Scheiße bauen und vom Leben überfordert sind. Das kannst du voll unterschreiben?

Wir haben tatsächlich im wahrsten Sinne genug Scheiße gebaut, und vom Leben überfordert ist man als Selbstständiger sowieso immer. Jeder denkt ja, als einigermaßen bekannter Musiker verdienst du so viel, dass du dein Leben problemlos finanzieren kannst. Is druff jeschissen! Um sich all das herbeizaubern zu können, wonach einem der Sinn steht, musst du schon in der Oberliga spielen. Knorkator sind ein Nischenthema, schon immer, und es ist nicht nur für mich ein Rätsel, warum wir so lange überleben konnten. Gott sei Dank kommen die Leute, auch eine neue heranwachsende Generation, in unsere Konzerte, und das sichert uns den Lebensunterhalt.

Ihr galtet in den Neunzigern als nächstes großes Ding – etwa zu der Zeit, als es eure Kumpels von Rammstein tatsächlich wurden. Denkst du manchmal darüber nach, warum es bei euch nicht geklappt hat?

Gero Ivers alias Stumpen

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Der Mensch: Jahrgang 1964, gebürtiger Berliner, mit sechs zur Musikschule Köpenick, anfänglich Klavier- und Violineunterricht, dann klassische Gesangsausbildung. Schaffte es mit seiner hohen Knabenstimme an die Staatsoper Unter den Linden, wo er bis zum Stimmbruch in „Tosca“ sang.

Die Band: Nach dem Stimmbruch war Gero Ivers nur noch für die Rockmusik zu haben und traf über Umwege Ende der 1980er Jahre Alf Ator, mit dem er nach einigen Projekten und Pausen 1994 Knorkator gründete. Die Band ist in der Rocklandschaft ein Unikat, weil sie ihre vulgären, satirischen und oft hintersinnigen Texte mit einer zwischen Arien und Metal changierenden Musik verknüpft – und pubertärem Bühnenquatsch. Knorkator ist Stammgast in Wacken, aber weil ihre Musik sehr speziell ist, blieb der ganz große Durchbruch aus.

Das neue Album: Seit dem Ende ihrer dreijährigen Auszeit 2011 kümmert sich die Band um all ihre Belange komplett selbst. Ihre neue CD „Ich bin der Boss“ erscheint am 16. September.

Das Interview: Der kreative Mittelpunkt einer der außergewöhnlichsten Berliner Bands liegt am Stadtrand in Friedrichshagen. Dort lädt Stumpen, wie Ivers alle nennen, zum Gespräch bei Kaffee und Pflaumenkuchen. (gl)

Nein. Wir waren in den Neunzigern zwar eine extrem hoch dotierte Indieband, hatten den Vorschuss aber nie eingespielt, sodass Knorkator in der Branche dann eigentlich verbrannt war. Dass die Band heute noch existiert, ist insbesondere Alf Ator und seinen Ideen zu verdanken und unserem Durchhaltevermögen und nicht zuletzt der Treue aller braven Knorkator-Fans.

2008 hatte sich die Band allerdings für eine Weile komplett verabschiedet.

Zum einen war ich knülle, konnte nicht mehr, und zum anderen ging mir dieses Angebiedere bei der Branche auf den Sack. Es gab immer viele Versprechungen, am Ende aber haben wir mehr bezahlt als eingenommen. So haben wir aufgehört. Nach dem Aufhören haben wir uns wieder getroffen und unsere Erfahrungen ausgewertet und mit Aufhören aufgehört. Nach dem Neubeginn 2011 kümmerten wir uns dann um alles komplett selbst: Label, Management, Booking, Merchandise, und wir konnten uns unabhängige Partner mit ins Boot holen, die Knorkator tatsächlich lieben, sich bemühen und nicht nur Geld kassieren wollen. Wie in einer großen Familie, wo man sich nicht verbiegen muss, miteinander lebt und liebt, sich vertraut. So kannst du auch im musikalischen Mittelstand überleben. Wichtig aber sind darüber hinaus Authentizität und Kontinuität.

Du bist ja nicht nur Sänger der „meisten Band der Welt“, sondern hast auch eine höchst anspruchsvolle Gesangsausbildung, die die meisten Bandsänger der Welt nicht haben.

Als Kind habe ich sechs, sieben Jahre lang die Musikschule Köpenick besucht. Dort sollte ich anfänglich Geige und Klavier lernen, was nicht so gut lief, weil ich vom Raufen und Fußballspielen immer kaputte Finger hatte. Meine Zeugnissen waren voll mit „ungenügend“. Schließlich wollte man mir noch eine letzte Chance geben: Gesang. Und da ich damals schon jeden Ton getroffen habe, wurde aus mir schließlich der einzige Junge im Mädchenchor der Musikschule. Das war schon komisch: Alle im Rock, außer ick in Hose. Aber es hat Spaß gemacht, weil der Lehrer und die Zeit toll waren. Als ich 14 war, fragte die Staatsoper Unter den Linden an, und ich entschied mich für das Engagement, anstatt bis zum Abschluss an der Musikschule zu bleiben. Ein halbes Jahr lang habe ich mit meiner hohen Knabenstimme in der Oper „Tosca“ den Hirtenknaben gesungen. Das war schon toll, weil ich Gage erhielt und mir davon einen Angelkoffer kaufen konnte. Dann allerdings bekam ich meinen Stimmbruch, und die Sache war vorbei.

Gehst du noch gelegentlich in die Oper?

Leider nicht, dazu fehlt mir als Vater zweier geliebter Kinder die Zeit. Aber die Klassik liebe ich natürlich noch. Kein anderes Stück hat bei mir solch einen furchtbar schönen und gewaltigen Eindruck hinterlassen, wie das „Was hast du mit meinem Herz getan?“ von Nicholas Lens, einem zeitgenössischen belgischen Komponisten [der auch schon mit Nick Cave eine Oper schuf; Anm. d. R.].

Für den Teenager war die Klassik aber erst mal außen vor?

Ja klar, ich wollte mit meinem Bruder lieber eine Rockband gründen. Das haben wir dann auch gemacht, eine Schulband. Weil mich nur noch die Musik interessiert hat, war ich so faul, dass sie mich nicht mal mehr zum Abi zuließen. Ich habe dann, um den wichtigen Stempel im Sozialversicherungsausweis zu kriegen, vier Stunden pro Woche gearbeitet: als Milchtütenverteiler in Schulen, Kloputzer in Apotheken und Hausmeister in Kindergärten. Die verbleibende Zeit hatte ich für mich und zum Musikmachen. Meine Eltern wollten natürlich, dass ich was Anständiges mache. Aber ich blieb bei der Musik, und als ich 1985 Alf kennenlernte, gründeten wir unserer erste Band, Funkreich. Mit der mussten wir noch vor einer Einstufungskommission spielen, um die begehrte „Profipappe“ zu kriegen, die man in der DDR brauchte, um mit Konzerten Geld zu verdienen. Der Weg bis zur eigentlichen Gründung von Knorkator war aber noch ordentlich steinig. Nach einigem Hin und Her haben wir uns dann 1994 entschieden, eine „Ausnahmemusik“ zu machen und damit so richtig professionell unser Geld zu verdienen.

Nach der Wende versuchten etliche jüngere Ostbands, mit irgendeiner Auffälligkeit „Ausnahmemusik“ zu schaffen; so ersannen Rammstein den Rollendes-R-Industrial-Rock. Euer fäkal-lyrischer Arienrock war auch so ein gezielter Versuch, mit einem Alleinstellungsmerkmal aus der Masse herauszustechen?

Alf sagte damals zu mir: Du hast doch so eine hohe Stimme, lass uns mal was probieren. Dann haben wir in seinem Schlafzimmer unseren ersten Song aufgenommen, die „Absolution“. Eine wunderschöne Komposition zu einer Aneinanderreihung von lateinisch eingefärbten Schimpfwörtern. Als seine Oma das hörte, sagte sie: „Du machst so schöne Musik!“. Da wussten wir, das könnte so funktionieren.

„Wenn Popstars nach unserer Show hinter die Bühne geschlichen kommen, sich bedanken und uns gratuliern – fetzt!“

Ihr habt, zusammen mit zwei anderen Solomusikern, 1996 Rio Reiser auf seiner letzten Tour begleitet. Wie fand Rio eigentlich eure Musik?

Wir spielten stets nach ihm, weil wir natürlich immer unsere Fernseher zerdreschen und die Bühne zerlegen wollten. Rio hat uns oft zugeguckt und mit dem Kopf geschüttelt. Dann haben wir zusammengesessen und uns lustige Musikergeschichten erzählt. Künstlerisch schätzen gelernt habe ich Rio Reiser in seiner Solozeit. Er machte tolle Musik mit klugen und zeitlosen Texten.

Woher rührt dein Faible für Sprache, etwa aus der Schule?

Ja, ich mag die deutsche Sprache und denke, dass mein Zuhause und die damalige Schule maßgeblich verantwortlich dafür sind. Und in der Musikschule hatte ich dann noch Gehörbildung, Ausbildung in Textgestaltung und Interpretation. Außerdem war meine Mutter Lektorin. Damals wurde außerdem auch noch darauf geachtet, dass vernünftige Sätze formuliert werden und die Grammatik sitzt. Meine Affinität zum Deutschen wurde später durch Alf Ator noch beflügelt. Alf ist für mich ja eh was Besonderes und hat entsetzlich viel dazu beigetragen, dass ich jetzt der bin, der deine Fragen beantwortet.

Eure Texte führen aber auch zu Missverständnissen. Denen, die sich nicht in euer Œuvre vertiefen, geltet Ihr lediglich als Brachialunterhalter mit geistlosem Humor.

Knorkator benutzt Satire, Klamauk, Humor und, ja, auch ein bisschen die Provokation. Dabei geht es nicht um die Provokation selbst, sondern um thematische und stilistische Vielfalt. Es ist unsere Art der Kunst. Wenn wir von scheißen und ficken singen, machen wir das nicht allein, um zu schockieren. Knorkator ist dem Staunen gewidmet. Staunen und erschrecken, da gibt es einen großen Unterschied. Ich finde staunen sehr gut als positive Folge von Provokation. Denk an The Who, die damit angefangen haben, ihre Instrumente zu zerdreschen, oder die angemalten Kiss, den Strumpfschwanz bei Red Hot Chili Peppers. Und auch in der bildenden Kunst finden wir das Staunen, wenn Leute was angucken und fragen: „Oha, das kostet vier Millionen?“

Ein staunendes Publikum ist also eure größte Befriedigung?

Ja, ein glückliches Publikum ist das, wofür es sich zu arbeiten lohnt. Aber auch das Lob eines Kollegen. Wenn Popstars nach unserer Show hinter die Bühne geschlichen kommen und uns die Hand geben, sich bedanken und uns gratuliern – fetzt!

Stumpen über die Stadt und seine Musik

Berlin ist sicher was Besonderes, mir aber zu laut, zu hektisch, zu teuer, zu nervös, zu verbaustellt. Ich glaube, Island wäre da für mich in­spirierender. Vielleicht, weil ich das nicht kenne

Nicht alle verstehen den Knorkator-Humor. Wegen des Covers eures Albums „We want Mohr“, auf dem ihr 2014 die Struwwelpeter-Geschichte karikiert habt, wurde euch von der Initiative Schwarze Menschen in Deutschland vorgeworfen, eure CD rassistisch zu bewerben.

Man muss unseren Humor ja nicht mögen, und anfänglich hatte mich der Vorwurf der Initiative damals auch sehr betroffen gemacht, weil ich mich natürlich als antirassistisch und links verstehe. Abgesehen davon, dass „Die Geschichte von den schwarzen Buben“ aus dem Struwwelpeter in ihrer Grundaussage meines Erachtens extrem antirassistisch ist, habe ich mich dann mit dem Vorwurf auseinandergesetzt. Ich wollte das Thema nicht so einfach abtun, von wegen „war doch nicht so gemeint“.

Ihr habt den Dialog gesucht.

Ja, haben wir. Wir wollten uns ernsthaft bereit zeigen, den rassistischen Vorwurf zu verstehen und kritisch zu hinterfragen, aber es wollte gar niemand mit uns sprechen, keine Fragen stellen oder Antworten haben. Das fand ich doch recht bedauerlich und ich war mir nicht mehr ganz sicher, ob es denen langt, Personen der Öffentlichkeit zu finden, denen man prompt und öffentlich den rassistischen Stempel aufdrücken kann. Um es dann dabei zu belassen, anstatt nach einer solchen Feststellung auf einen rassistischen Aspekt hinzuweisen und mit uns zu reden! Geht man das so ernsthaft an? Ich finde das eher kontraproduktiv, weil die negative Kritiklawine allen anonymen Großmäulern mit ihrem politischen Halbwissen eine Plattform bietet, ihren Quark auszukotzen, ohne Chance auf ein positives Ergebnis.

In dem neuen Song „Setz dich hin“ geht ihr vom hintersinnigen Humor zu unverhohlenem Sarkasmus über, Zitat: „Halt den Mund, ich mach es dir bunt, friss dich satt, fühl dich frei!“ Seid ihr desillusioniert von der Masse, die sich der Ablenkungsindustrie hingibt, von der ihr ja selbst ein kleiner Teil seid?

Ich glaube, dass Alf sich bei dem Song „Setz dich hin“ von dem Buch „Die Psychologie der Massen“ von Gustave Le Bon [erschienen 1895; Anm. d. R.] inspiriert wurde. Wir haben etliche Stunden über das Buch diskutiert und über die darin aufgeworfene These, dass jeder Mensch für sich allein klug und kultiviert ist, aber in der Masse dumm, unkoordiniert und anders auftritt. Es kann gut sein, dass der ein oder andere überhaupt nicht versteht, worum es hier eigentlich geht, was wir eigentlich wollen. Das ist dann auch okay.