In der Kathedrale der Entfremdung

NOISE Gemeinsam allein und Körper sein. Am Sonntag ging in Berlin nach fünf Tagen das gut besuchte Atonal-Festival zu Ende

Group A war einer von Dutzenden Acts bei Atonal Foto: Billa Baldwin

Wir sind alle Gäste auf Erden. Aber eingeladen wurden wir nie. Irgendwann waren wir da – und mussten uns zurechtfinden in einer Welt, in der Kriege im Namen von Göttern geführt, Comicfiguren Präsidenten werden und sich alle elf Minuten jemand über Parship verliebt. Einen Ausweg daraus bietet seit jeher die Musik. Früher war das Punk, heute sind es experimentelle Spielarten der Clubmusik, die einem aus der ideologischen Obdachlosigkeit helfen, allen voran abstrakter Techno, aber auch Noise, Dubstep und Post-Industrial.

Beobachten ließ sich das auf dem Festival „Berlin Atonal“, das im dritten Jahr seit seiner Wiederaufnahme Tausende Besucher versammelt. Was sie vereint, ist nicht nur das Bedürfnis nach einer anderen Welt, sondern auch das, die Routine der eigenen Sinne durch radikale Musik herauszufordern.

Dafür gab es an den fünf Tagen auf dem Gelände des ehemaligen Heizkraftwerks Berlin-Mitte genügend Möglichkeiten. Neben Pionieren wie dem Synthesizermusiker Peter Zinovieff, der zur Eröffnung mit der britischen Cellistin Lucy Railton spielte, waren einige Heroen des Underground zu Gast, da­runter Clubmusikzerstörer wie die chinesische Noise-Musikerin Pan Daijing oder das Duo UF, bestehend aus den US-amerikanischen Technomusikern Samuel Kerridge und Oake. Während Kerridges Silhouette auf der „Main Stage“ seinen Maschinen polyrhythmische wie knüppelnde Beats entlockte, sorgte Oake mit zünftigen Schreieinlagen für eine intensive Unmittelbarkeit, die vom Publikum mit Szenenapplaus gewürdigt wurde – eine rare Angelegenheit, wirkte die fast völlig dunkle Halle sonst doch eher wie eine Kathedrale der Entfremdung als ein Tempel der Euphorie.

Mit ihren fast 20 Meter hohen Wänden ist die Halle der heimliche Star des Festivals – und zugleich die ästhetische Schaltzentrale. Musik, Architektur und die riesige Video­lein­wand verbinden sich zum Gesamtkunstwerk. Die Besucher werden Teil einer Menge, sind aber zugleich zurückgeworfen auf sich selbst: Gemeinsames Alleinsein. Eine gewisse Orientierung boten die Visuals, die jedoch oft ab­strakt waren – und daher die Musik eher verdoppelten, als sie zu kontrastieren. Eine Abwechslung von der Schwarz-weiß-Ästhetik bot der britische Musiker Roly Porter, der am Donnerstag mit dem Visualkünstler Marcel Weber aka MFO auftrat. Zu den sphärischen, gelegentlich von Krach- und Beatattacken unterbrochenen Klängen Porters schuf MFO eine apokalyptische Science-Fiction-Welt, die in einem klaustrophobischen schwarzen Nebel zu verschwinden drohte.

Das Gefühl der angenehmen Entfremdung herrschte auch an den anderen Locations vor. Auch in den Clubs Ohm und dem legendären Tresor ging es um intensiv geteilte körperliche Gegenwart, die Erfahrung einer Musik, deren massive Bässe und Sounds in wuchtiger Lautstärke eine Katharsis erzeugen. Im Ohm verwandelte sich die Anonymität der großen Halle in Intimität. Hier spielten Musiker wie der Experimentalsaxofonist Yoni Silver oder Dub­step-Pioniere wie Pinch aus Bristol oder die Berliner DJs Skratch und Orson, deren DJ-Set virtuos zwischen gegenwärtigem Breakbeat House und 90er Jungle changierten. Ein Highlight am Samstag war das Liveset der Londonerin Shelley Parker, die den kleinen Club mit entwaffnenden Bässen und scharfkantigen Breakbeats in eine Art rituelle Höhle verwandelte. Selbst Türsteher Ronny, der mit verschränkten Armen vor der Bassbox steht, nickt kurz mit dem Kopf. Er ist gestresst, aber zufrieden. Anders als im normalen Clubbetrieb habe es keinen Zwischenfall gegeben.

Kein Wunder, scheinen doch die meisten Besucher geradezu beseelt zu sein davon, gemeinsam mit gleichgesinnten ­Fremden auf einem Festival zu sein, das sich irgendwie immer auch wie eine Utopie anfühlt, sei es wegen des ausgeglichenen Geschlechterverhältnisses, des respektvollen Miteinanders oder der niedrigen Kommunika­tions­schwelle.

Dass ein schöner Frieden herrscht, begründet Manuel, der aus Italien stammt und in London lebt, mit dem Interesse an der Musik. „Die meisten sind wirklich wegen der Musik hier. Das verbindet“, sagt er und zieht an einem Joint, den ihm zwei junge Männer, ein queeres Paar, angeboten haben. Nicht alle kommen nur wegen der Musik. Anna etwa hatte ihr erstes Date mit zwei Leuten gleichzeitig. Über Tinder hatte sie sich mit einem Paar an der „Main Stage“ verabredet. Auch das ist ein Festival wie „Atonal“. Eine Erinnerung daran, dass musikalische Subkulturen 2016 nicht einfach nur eine Reduktion des Lebens auf Stilfragen sind, sondern auch ein Kaleidoskop unterschiedlicher Lebensstile.

Philipp Rhensius