Debatten-Reihe „Warum AfD?“ – Teil 1: Taktisch AfD wählen?

Die Linke muss Liberalität und Soziales wieder zusammen denken, wenn sie den Aufstieg der Rechtspopulisten verhindern will.

Schirme ragen über einen Balkon

Was passiert, wenn Mieten kontinuierlich steigen, aber das eigene Gehalt nicht? Foto: dpa

Angenommen, Sie sind Mitte 40, seit 15 Jahren Altenpflegerin in Berlin, alleinerziehend, 2.800 Euro brutto plus Kindergeld. Sie wohnen seit Ewigkeiten in Neukölln, eine 3-Zimmer-Wohnung für Sie und die beiden Kinder. Die Miete betrug früher 650 Euro, heute liegt sie bei 850, nachdem ein dänischer Immobilienhai Ihr Haus aufgekauft hat. Nach Neukölln wollte früher niemand. Jetzt bezahlen Immobilienfirmen dort Mondpreise für Häuser.

Manchmal schlafen Sie schlecht: Der Immobilienhai will Ihr Haus modernisieren, die Miete könnte nochmals um 200 Euro steigen. Vielleicht wäre das noch zu schaffen. Aber selbst wenn – für später sehen Sie schwarz: Rot-Grün und die Große Koalition haben Ihre Rentenansprüche gekürzt. Steigende Mieten bei sinkenden Renten: Im Alter, so fürchten Sie, werden Sie in die Platte nach Marzahn umziehen müssen. Dorthin, wo Sie niemanden kennen und niemals hinwollten.

Wird Berlin wie San Francisco?

Seit Wochen überlegen Sie, was Sie am 18. September in Berlin wählen sollen. Die SPD, die Sie früher angekreuzt haben, verspricht zwar (ebenso wie Grüne und Linke) bezahlbare Mieten in der Stadt. Aber das Mietrecht ist Bundessache, dort blockiert die Union eine wirksame Mietpreisbremse. Und gleichzeitig ziehen immer mehr Menschen nach Berlin, 2030 sollen es 260.000 mehr als heute sein, sagt der Senat. Für öffentlichen Wohnungsbau gibt Berlin heute wieder Geld aus, den Großteil des Neubaus sollen aber private Investoren stemmen.

Und was ist, wenn die Zuwachsprognosen zu niedrig angesetzt sind? Schließlich wirbt der Senat um den Zuzug von immer mehr Start-up-Firmen, etwa jetzt in London nach dem Brexit. In San Francisco haben die gut bezahlten Angestellten von Google & Co. die Immobilienpreise zum Explodieren gebracht.

Manchmal, in Ihren schlaflosen Nächten, haben Sie daher eine finstere Idee: Sie wählen AfD. Denn wenn Sie SPD, Grüne oder Linke wählen, so rechnen Sie sich aus, würde alles routiniert weitergehen: Ein paar mehr öffentliche Wohnungen hier, ein bisschen mehr Mieterschutz da, während die obere Mittelschicht der Welt weiter ins liberale Berlin drängt.

2006, mit dem sogenannten Fußball-Sommermärchen, habe der Run auf Berlin angefangen, hat Ihnen ein SPD-Landespolitiker mal gesagt. „Die Welt hat gesehen, die Berliner sind gar nicht so unsympathisch. Tolle Stadt.“ Als Berlin für andere zur „tollen Stadt“ wurde, begannen Ihre Sorgen.

Und deshalb könnten Sie am Sonntag zocken: Regieren sollte die AfD nicht, von Mieterschutz und Sozialpolitik hält sie nicht viel. Was aber würde passieren, wenn die AfD auf, sagen wir, 15 bis 20 Prozent käme?

Auf Facebook, so hoffen Sie, würden besorgte Debatten losgehen: Können wir noch nach Berlin ziehen, wo dort doch so viele rechtsradikal wählen? Die Start-ups würden überlegen, ob sie nicht in London bleiben. Und die Hipsterszene von New York bis Portland könnte Havanna statt Berlin als „Place to be“ ausrufen. Der Druck auf den Berliner Wohnungsmarkt ließe nach. Und bei der SPD würden Debatten losgehen: Was müssen wir tun, damit wir die abgewanderten Wähler zurückholen? Mehr Mieterschutz, mehr Rente? Die SPD wird ja stets dann sozialer, wenn man sie nicht wählt.

Die SPD wird ja stets dann sozialer, wenn man sie nicht wählt

Am Ende werden Sie, trotz schlafloser Nächte, natürlich nicht die AfD ankreuzen. Schließlich sind Sie keine Zynikerin und würden nie eine Partei wählen, die darüber nachdenkt, auf Flüchtlinge zu schießen, nur damit Sie selbst nicht nach Marzahn umziehen müssen.

Dennoch lässt sich mit diesem Gedankenspiel wunderbar illustrieren, warum die AfD und andere rechtspopulistische Parteien in Europa heute erfolgreich sind: Das Liberale und Soziale gehen nicht mehr Hand in Hand.

Städte wie Berlin folgen heute der „creative class“-Theorie des Ökonomen Richard Florida: Sie wollen möglichst liberal sein, um weltweit die kreativen Köpfe anzuziehen, weil nur so Wachstum generiert werden könne. Wenn die „creative class“ kommt, bringt sie einen Immobilienhype mit sich, der einen bisher halbwegs sozial gerechten Wohnungsmarkt zerstört – jedenfalls, wenn es weder ausreichenden Mieterschutz noch einen großen öffentlichen Wohnungssektor gibt. Beides hat Berlin nicht, und deshalb leiden langjährig Beschäftigte unter dem Berlin-Boom.

In den späten 60er und 70er Jahren, als der erste Modernisierungsschub durch Europa rollte, gingen Liberalisierung und Ausbau des Sozialstaats noch parallel: Scheidungen und Abtreibungen wurden erleichtert, die Strafbarkeit von schwulem Sex nach Paragraf 175 weitgehend aufgehoben. Gleichzeitig stiegen die Löhne, die Leistungen der gesetzlichen Versicherungen wurden verbessert.

Liberaler und unsozialer

Der Wendepunkt kam ab Mitte der 70er Jahre, als die Wirtschaft und mit ihr der Keynesianismus als sozialdemokratische Wirtschaftstheorie in die Krise gerieten. Die SPD wandte sich einer nur leicht abgemilderten Form des Neoliberalismus zu. Deutschland wurde gleichzeitig liberaler und unsozialer: So verschlechterte Rot-Grün Arbeitslosen- und Rentenrecht, liberalisierte aber zugleich das Staatsbürgerschaftsrecht und ermöglichte eine Lebenspartnerschaft für Schwule und Lesben. Damit entstand eine Lücke der Repräsentanz: Wen sollten diejenigen wählen, die einen besseren sozialen Schutz brauchten, als ihnen SPD und Grüne zugestanden? Die Linkspartei konnte dieses Vakuum nur zum Teil füllen, weil sie bei ihren Regierungsbeteiligungen im Osten eine ähnliche Politik betrieb wie die SPD.

Das Vakuum blieb. Und nach Jahren, in denen Linksliberale das Liberale stärker und das Soziale schwächer werden ließen, lag es nahe, dass eine Partei gewinnt, die ihren sozialen Hass auf die liberalen Eliten und die von ihr geförderten Minderheiten projiziert: die AfD. Die AfD ist keine sozialdemokratische Partei im nationalen Gewand. Aber sie hätte niemals so stark werden können, wenn nicht die linken Parteien die Interessen der sogenannten kleinen Leute geopfert hätten.

Wenn die liberale Linke die AfD kleiner bekommen will, muss sie daher liberale und soziale Politik wieder zusammen denken. Beschränkt sie sich darauf, die AfD-Wähler als Rassisten oder Nazis zu beschimpfen, könnte sie noch ein blaues Wunder erleben.

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Von 2018 bis 2020 taz-Parlamentskorrespondent. Zuvor von 2013 bis 2018 Leiter der taz-Inlandsredaktion, von 2012 bis 2013 Redakteur im Meinungsressort. Studierte Politikwissenschaft in Berlin, danach Arbeit als freier Journalist für Zeitungen, Fachzeitschriften und Runkfunkanstalten, Pressesprecher eines Unternehmensverbands der Solarindustrie und Redakteur der Blätter für deutsche und internationale Politik.

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