Unter Schwimmfaschisten

Neukölln Jörg Sundermeier erzählt in seinem Buch „Die Sonnenallee“ nicht nur von Stadtbad und Straßenfest, sondern auch von der Eckkneipe, vom Hauptmann von Köpenick und vom M41. Ein Vorabdruck

Ein Stern der Berliner Bäder mit heftig kraulenden Besuchern: das Stadtbad Neukölln Foto: Julia Baier

Von Jörg Sundermeier

Die Innstraße lag wie die Finow- und die Anzengruberstraße bis vor wenigen Jahren in einer Art Dornröschenschlaf. In der Anzengruberstraße gab es einen Aldi, der dann über die Karl-Marx-Straße umzog und schon bei der Neueröffnung genauso düster und traurig aussah wie am alten Standort. Gegenüber in der Donaustraße liegt ein Lidl, auf dessen Dach man parken kann. Doch es sammeln sich inzwischen immer mehr Fahrräder vor dem Eingang und weniger Autos auf dem Dach. Der Verkehr hier ändert sich. Kleine Kaffeeshops haben eröffnet, Restaurants für moderne arabische oder spanische Küche, Hausbesitzer lassen die Fassaden renovieren und fanatische Freunde des Urban Gardening bepflanzen die nicht bepflasterten Rechtecke, die man um die leidenden Bäume herum gelassen hat, mit Blumen und sogar Tomaten.

Auf dem Platz vor dem Stadtbad Neukölln hat die dort früher ansässige Krankenkasse vor vielen Jahren große steinerne Pflanzkästen aufgestellt, in denen bald alles, was nicht groß genug gewachsen war, geplättet wurde. Nicht etwa durch die Füße wild gewordener Jugendlicher, sondern durch die Hintern der trinkenden Rentner, die dort ein lauschiges Plätzchen gefunden hatten, um das Morgenbier oder den Nachmittagsbranntwein zu kippen. Diese Rentner, die in den umliegenden Häusern wohnten, lärmten nicht und trieben es auch nicht bis zum Exzess, sie tranken ein Bier, das sie bei Aldi oder Lidl erworben hatten, plauschten mit ihren Nachbarn, dann machten sie sich mit ihrem Rollator wieder auf den Heimweg. Mehrere Versuche der Anrainer, den Krieg der Hintern gegen die Pflanzen zu beenden, scheiterten jämmerlich.

Das Stadtbad wurde 1914 eröffnet; es gibt dort zwei Schwimmbecken in herrlichen Säulenhallen, eine Sauna und bis vor Kurzem auch Badewannen für Wannenlose, die inzwischen nicht mehr benutzt werden.

Das Stadtbad wird von seinem Betreiber als „ein Stern der Berliner Bäder“ bezeichnet, was tatsächlich stimmt, zumindest so lange, wie man sich für Architektur interessiert. Dass mein Eindruck vom Bad getrübt ist, liegt nicht an den Tagen, an denen die Freikörperkulturellen ihre schnieken Körper vorzeigen, es liegt an anderen, wirklich nervigen Besuchern.

Will man im Stadtbad wirklich schwimmen oder einfach nur mitten im Becken herumstehen, wie dies einige betagtere gelernte Berliner gern tun, muss man sehr früh kommen oder sehr spät. Früh oder spät sind nur die Beckensteher da. In den meisten Tagesstunden allerdings sind die beiden arg kurzen Becken von Schwimmfaschisten bevölkert. Das sind Menschen, die im Schmetterlingsstil oder im schnellen Kraul sehr rasch ihre kurzen Bahnen ziehen und, obschon sie eine Schwimmbrille tragen, nicht in der Lage sind anderen auszuweichen. Egal, wo man schwimmt, man ist dem Schwimmfaschisten im Weg, und das wird einem sehr deutlich gezeigt, indem gerammt wird, ohne Rücksicht auf Verluste.

Jörg Sundermeier, Verleger des Verbrecher Verlags und unser Autor, lebt schon lange in Neukölln. Lange Jahre in der Karl-Marx-Straße, nun in der Innstraße, „ein herber Niedergang in adresslicher Hinsicht“, wie er meint.

„Die Sonnenallee“ heißt sein in wenigen Tagen beim Bebra Verlag erscheinendes Buch, aus dem wir heute eine gekürzte Fassung des Kapitels „Schwimmfaschisten“ drucken. Das Buch umfasst 144 Seiten und kostet 10 Euro.

Die Buchpremiere findet am kommenden Samstag, 17. September, um 19 Uhr im Heimat­hafen Neukölln statt. Eintritt 7 Euro.

Diese Schwimmfaschisten haben die neoliberale Ideologie absolut internalisiert: Es gibt keine Mitmenschen, es gibt keine Gesellschaft, die sich irgendwie mithilfe von Kompromissen auf etwas einigen könnte, es gibt nur mich und meine Bahn und Konkurrenten, die man ausschalten muss. Eine reine Ichwelt.

Vom Beckenrand aus kann man immerhin beobachten, dass die Schwimmfaschisten auch ihresgleichen schlimm finden. Lässt ein weiterer Schwimmfaschist seinen Edelbody ins Wasser gleiten, so wird der erste sofort schneller schwimmen, härter ausschlagen und seine Bahn erweitern. Der Schwimmfaschist ist dem Schwimmfaschisten ein Feind, hat das nicht bereits der römische Dichter Plautus gesagt?

Bis 2009 erstreckte sich in jedem September zwischen Pannier- und Treptower Straße das wunderbare Straßenfest „Singende, klingende Sonnenallee“, das Fest gab es fast dreißig Jahre lang. Beendet werden musste es erst, weil der damalige, ziemlich selbstherrliche Bezirksbürgermeister Heinz Buschkowsky befand, das immer gut besuchte Fest zeige zu wenig Niveau. Auch der Protest der Betreiber des Sonnenalleefestes, immerhin eine Arbeitsgemeinschaft, der fünfundzwanzig Gewerbetreibende angehörten, konnte den Mann nicht beirren. Nun muss man allerdings wissen, dass der damalige Bezirksbürgermeister nicht schlecht damit verdiente, in Büchern und Fernsehtalkrunden vor den Bewohnern Neuköllns, also letztendlich vor seinen eigenen Wählern, zu warnen. Interessanterweise wurde er trotzdem mehrfach wiedergewählt. Die Straßenfeste hatte der Mann leider nicht verstanden. Dabei waren sie grandios.

Als Mensch muss man, weiß der Deutsche, Heimatliebe aufbringen, ich konnte mich aber nie wirklich zu einem Lokalpatriotismus aufschwingen. Jedes Lästern über den eigenen Kiez gefiel mir. Doch dieses Fest brach mir, als ich es das erste Mal aufsuchte, das Herz. Man musste am Nachmittag kommen, das war das Geheimnis. Rauch, Krach und Tennissocken waren reichlich vorhanden, doch das Essen war besser als sonst in der Gegend, da man an einem Holzkohlegrill mit halbwegs gutem Fleisch eigentlich nie etwas falsch machen kann. Die Kinder verlustierten sich in Kinderkarussells oder ritten auf Ponys, die so zugedröhnt wirkten, dass mancher Kiffer sie neidisch anstarrte. Die Bierstände wurden früh und gern frequentiert, unter einem halben Liter konnte man keine Biere erwerben, das war damals in Berlin noch unüblich, inzwischen ist die Hauptstadt, was das angeht, völlig verneuköllnert.

„Singende, klingende Sonnenallee“ – dieses Fest brach mir, als ich es das erste Mal aufsuchte, das Herz

Auf den Bühnen mühten sich redlich alternde Sänger, die Countrymusik mit deutschen Texten feilboten und verzweifelt an ihrer Gitarre zupften. Vor ihnen tanzte immer – vor jeder Bühne mit jedem Countrysänger! – ein einsamer Mann mit wenigen Zähnen, oft hatten sich diese einsamen Tänzer noch ihr T-Shirt ausgezogen, ihren Tanzschritten nach zu urteilen reagierten sie auch nicht auf die Songs, die ihnen dargeboten wurden, sondern lauschten einer Musik aus einer anderen Welt. Der Rummel war herrlich.

Wenn ich mir den Charakter eines Menschen schnell erklären wollte, den ich vorher nicht gut kannte, schleppte ich ihn mit auf dieses Fest. Sah er nur Trash und machte Stefan-Raab-artige Witze, so konnte ich diesen Menschen getrost aus meinem Gesichtsfeld verstoßen. War jemand allerdings abgestoßen von den einfachen Menschen, so war es noch schlimmer, denn er verachtete die Rollatorrentner, die hier auf der Bierbank saßen und einmal nicht vorm Stadtbad mit ihren Plätthintern Blumen vernichteten, er missbilligte das Tun der Köfteverkäuferin, die ihre Hände an ihrem Rock vom Fett befreiten, und er ärgerte sich über den Gehandicapten, der mit einem Luftballon am Rollstuhl lachend durch die Menschen manövrierte. Ich erkannte in solchen Augenblicken, ich war mit einem Schwimmfaschisten unterwegs, den ich bislang nur deshalb nicht erkannt hatte, da er ein Hemd trug und keine Badekappe. Einer, der es verabscheute, dass die Straße für ein paar Tage ganz denen gehörte, die dort lebten.

Heute kann ein solcher Mensch glücklich sein. Die „singende, klingende Sonnenallee“ wird es, nein, kann es so nicht mehr geben, da es in dieser Gegend die Menschen kaum mehr gibt, die dafür nötig sind. Vorm Stadtbad sprießen die Blumen, die nicht plattgesessen werden, die Countrysänger haben den Bezirk verlassen und ihre Solotänzer gleich mitgenommen, niemand weiß, wohin.