Raum für die Lust und Raum für brave Kinder

OPER Robert Borgmann inszeniert an der Deutschen Oper Mozarts „Così fan tutte“ als Lehrstück. Donnald Runnicles dirigiert entspannt ein junges Ensemble schöner Stimmen

Sich selbst kann man schon mal die Untreue erlauben. Szene aus „Così fan tutte“ Foto: Marcus Lieberenz

von Niklaus Hablützel

Der Mann mit den schulterlangen Haaren hat Erfahrungen gemacht. Vielleicht hat er auch nur zu viel Rousseau gelesen und zu lange über die Natur des Menschen nachgedacht. Jedenfalls nimmt er jetzt die beiden Jungs an der Hand und führt sie vor den roten Vorhang, der sich für diesen Beginn des Theaters noch einmal schließt. Er will ihnen helfen, weil sie soviel Unsinn reden. Nein, sie singen ihn mit ihren sehr schönen, jungen, kräftigen und sorgfältig ausgebildeten Stimmen. Sie haben sich verliebt und glauben, dieses Glück sei für die Ewigkeit. Ist es nicht, weiß der Langhaarige, denn die Treue der Frauen gibt es nicht. Sie lachen ihn aus und gehen die Wette ein, die er ihnen anbietet.

Der Vorhang öffnet sich wieder. Zu sehen sind dunkle Räume, voll gestellt mit schwer deutbaren Objekten, die auf der langsam rotierenden Drehbühne vorbeiziehen, kleine Klaviere etwa oder wuchernde Pflanzen. Die Rückwand zeigt düstere Fotografien, manchmal Porträts der Sängerinnen, öfter aber Landschaften der Moderne, kranke Wälder, abbrechendes Packeis, auch die Glasfassade eines Bankenturms.

Robert Borgmann ist von der bildenden Kunst zum Theater gekommen und hat (unter anderem) Philosophie studiert. Das eine ist zu sehen, das andere zu hören. Seine Bühne ist eine Skulptur, die ganz für sich allein steht. Sie illustriert nichts. Sie schafft nur optische Räume für farbig kostümierte Kunstobjekte, die sich darin bewegen. Nicht allzu viel allerdings, sie führen kein Drama auf, denn Borgmann nähert sich mit philosophischer Demut dieser letzten der drei großen Opern, die Lorenzo da Ponte für Wolfgang Amadeus Mozart geschrieben hat. Ein gutes Theaterstück ist sie tatsächlich nicht, dann dafür ist ihre Handlung zu wenig glaubwürdig. Warum nur sollten die beiden verliebten Mädchen drei volle Stunden lang nicht merken, dass ihre verliebten Jungs sich nur verkleidet haben? Bei Borgmann ist diese dramaturgische Nullnummer kein Problem, weil er kein Drama inszeniert, sondern ein Gedankenexperiment.

Don Alfonso, der Langhaarige, gewinnt seine Wette mit einem strikten, empirischen Beweis. Für Borgmann ist das genug, und er hat natürlich recht, was die historische Bedeutung des Werkes angeht, das Jahrzehnte lang verachtet und manchmal noch heute als unmoralisch und frauenfeindlich verurteilt wird. Aber es ist ein bisschen wenig für Mozart, der seine Figuren sehr viel mehr leiden lässt unter der Last ihrer Gefühle, als Borgmann zeigen kann. Sein ehrfurchtsvolles Gedankenexperiment endet mit zwei braven Mädchen und zwei artigen Jungens, die sich dem besseren Argument beugen. Ihre Jugend ist zu Ende, ihre Liebe erwachsen geworden.

Mozart lässt seine Figuren viel mehr leiden unter der Macht ihrer Gefühle

War es das? Nein, wenn Nicole Car in ihrer großen Arie der Fiordiligi weit ausholt, sich selber auf die Probe stellt, Moral, Gefühl und Lust abwägt, um sich selbst die Untreue zu erlauben, dann geht es weit mehr unter die Haut als die didaktische Installation, die Borgmann um sie herum gebaut hat. Wie immer, wenn eine Sängerin dieses unfassbar große Stück Musik so hervorragend singen kann wie diese junge Australierin, kommen Dimensionen der Seele zur Sprache, die viel tiefer sind. Die kleine Nachhilfestunde für die Kinder erreicht sie gar nicht, und das gilt für alle anderen Figuren des Stücks ebenso.

Auch Stephanie Lauricella als Dorabella, John Chest als Guglielmo und Paolo Fanale als Ferrando lassen mit ihren allesamt wundervollen, harmonisch zusammenpassenden Stimmen seelische Räume erklingen, die weit über Borgmanns Bühne hinausreichen. Den Spielraum dafür hat er ihnen immerhin freigemacht, und Donnald Runnicles füllt ihn lustvoll aus. Manchmal etwas verwackelt, aber auf spieltechnische Perfektion kam es ihm zum Glück nicht an.

So entsteht ein entspannter, enorm lebendiger Mozart, der das Premierenpublikum immer wieder zu spontanem Applaus mitreißt. Noel Bouley und Alexandra Hutton als Alfonso und Despina fühlen sich natürlich in Borgmanns Seminar am Besten zu Hause. Sie leiten die Sitzung mit bewährter Komik so, dass wir auch mal lachen dürfen. Das letzte Wort hat Bouley mit seinen langen Haaren. Er ruft uns zur Vernunft auch in der Liebe auf. Es könnte kantisches Pathos darin drin liegen, aber es klingt wieder nur so brav, wie diese Kinder nun mal sind. Schade, dass Borgmann seine philosophischen Hefte zu früh zugeklappt hat. Trotzdem ein gelungener Start in die neue Saison.

Nächste Aufführungen: 28. 9., 1., 8., 11., 14.10. 2016