Alle böse außer Willy

Volksbühne Eine neue Volksbühnenbewegung sollte am Dienstag ebendort ausgerufen werden. Passierte aber nicht. Stattdessen agitierten Guillaume Paoli und Jürgen Kuttner gegen Tim Renner, Kreativwirtschaft und Tourismus

Die Sozialdemokratie liegt siegreich am Boden. Außerdem droht ein neuer Intendant an der Volksbühne am Rosa-Luxemburg-Platz. Die Leute von der Volksbühne sind dagegen und haben einen Aufruf veröffentlicht, in dem sie ihr Aufbegehren schlüssig begründen. Tim Renner ist logischerweise dafür, obgleich er eigentlich nur noch pro forma zuständig ist. Dass er vor ein paar Tagen an CDU-Abgeordnete eine Sammel-SMS schickte, in der er dazu aufforderte, einen Lotto-Antrag von Dercon zu unterstützen, der für 500.000 Euro gerne auch noch Tempelhof bespielen möchte, wie die Morgenpost berichtete, ist witzig.

Beide Themenbereiche – das Ende der Sozialdemokratie und das befürchtete Ende der Volksbühne as-we-know-it – gilt es an diesem Abend miteinander zu verknüpfen. Wobei Guillaume Paoli, der nicht am Haus angestellte Hausphilosoph der ruhmreichen Volksbühne, den Abend zur Sozialdemokratie schon vor einem halben Jahr klar gemacht hatte. „Ende der Sozialdemokrate – da kann nichts schiefgehen.“ Paolis Gast ist Jürgen Kuttner, der seine Ost-West-­Videoschnipselvorträge mittlerweile auch schon etwa zwanzig Jahre hält.

Die meisten im Publikum trinken Wein. Meine Nebenleute trinken Teebeuteltee und unterhalten sich über Trapezturnen. Eine Frau stellt eine Tafel auf die Bühne, auf der steht „Volksbühnenstruktur erhalten“. Kuttner und Paoli sitzen an einem Tisch. Beide tragen schwarze Hemden. Die Äpfel der Laptops sind nicht abgeklebt. Ein bisschen fühlt man sich wie auf einer Studentenvollversammlung.

Paoli führt in das Thema ein und zitiert einen SPD-User, der schrieb: „Wir brauchen einen Neuanfang. Was uns fehlt, ist eine Idee.“ Während man in den 1970er Jahren davon ausgegangen sei, dass sich die Sozialdemokratie überall durchsetzen wird, scheine die Sozialdemokratie nun überall am Ende zu sein. Nicht nur hierzulande, wo die meisten SPD-Mitglieder schon über 65 seien, sondern auch in Spanien, Griechenland, Italien usw.

Die Sünden der Sozialdemokratie werden aufgezählt; von der Bewilligung der Kriegskredite 1915 bis zur Agenda 2010, vom Jugoslawienkrieg bis zu Tim Renner. Nur Willy Brandt kommt gut weg.

Hypnotisiert von der Idee der Mitte geht die SPD ihrem Ende entgegen. Minderwertigkeitskomplexe mögen eine Rolle dabei gespielt haben. Man möchte so gern bürgerlich sein. Letztlich sei, wie Kuttner meint, auch die SPD am Aufstieg von Pegida und AFD mit schuld: „Die artikulieren doch etwas, das da ist.“

Ab und an gibt es kleine Solos, etwa über Backpfeifengesichter, doch so recht kommt der Abend nicht in Schwung. Irgendwann meldet sich eine SPD-Anhängerin zu Wort und sagt, dass es viele in der SPD gebe, die diese und andere Kritikpunkte teilen.

Die alte Volksbühnenbewegung war zum Zweck der proletarischen Bildung entstanden. Für den zweiten Teil des Abends war die Gründung einer neuen Volksbühnenbewegung angekündigt, die notfalls ihre Ideen auch ohne Stammhaus unter die Leute bringen könnte, wie Paoli in einem dreiseitigen Aufruf geschrieben hatte. Einige Leute im Publikum hätten da sofort mitgemacht. Doch so wörtlich hatte man das wohl doch nicht gemeint.

So werden die Argumente gegen die drohende Zukunft, in der „Kreativwirtschaft und Tourismus die einzig relevanten Parameter“ seien (Paoli), noch einmal aufgezählt. Eine Frau berichtet von einer Kampagne, die sie auf change.org gestartet habe, und das Ensemble-Netzwerk sendet solidarische Grüße. Kuttner favorisiert die Parole „Böse bleiben – Banden bilden“ und zeigt zum Abschied ein schönes Video der deutschen Version von „Paranoid“ von Cindy und Bert und danach die filmisch anspruchslosere Originalversion von Black Sabbath.

Die Tafel, auf der „Volksbühnenstruktur erhalten“ stand, hatte sich an diesem Abend keinen Zentimeter bewegt.

Detlef Kuhlbrodt