Debatte Terror und Angst: Deutschland einig Neurotikerland

Angst vor Terroristen und Flüchtlingen ist zu unserer Staatsräson geworden. Das ist falsch. Wir müssen die Angst bekämpfen.

Eine Landstraße im Nebel

Vor dem Nebel liegt die Angst. Dahinter liegt möglicherweise ein klarer Blick in eine verheißungsvolle Zukunft Foto: Photocase / Thomas K.

Angst ist dieser Tage salonfähig. Man könnte auch sagen: social-media-kompatibel oder stammtischwürdig. Kein Tag vergeht, ohne dass gewisse Ängste beschworen und hofiert werden, ganz so, als sei Angst die herausragende Leistung unserer Epoche und unserer glorreichen Zivilisation.

Es sei in Ordnung, Angst zu haben, heißt es allenthalben. Ja, mehr noch: Wer die herrschende Verzagtheit kritisiert, wird immer wieder aufgefordert, die angeblich weit verbreitete Angst der Bürgerinnen und Bürger ernst zu nehmen – als bestünde die Gesellschaft nur noch aus Neurotikern und Psychoanalytikern.

Angst ist das neue Tamagotchi, das wir tätscheln und nähren sollen. „Sie müssen diese Angst doch verstehen“, werden all jene zurechtgewiesen, die einen Ausbruch in die politische Vernunft wagen.

Nein, nein, nein. Wir müssen Angst nicht verstehen! Im Gegenteil: Wir müssen sie bekämpfen. Angst ist unsinnig, gefährlich, erbärmlich. Seit wann wird der Pathologie der Angst derartige Relevanz zugesprochen, höchste Priorität eingeräumt?

Angst muss man nehmen

Wenn Kinder Angst vor der Dunkelheit haben, versuchen die Eltern, ihnen diese Angst zu nehmen und lassen nicht das Licht die ganze Nacht brennen, ein Leben lang. Wenn jemand Schritttempo auf den Autobahnen fordern würde, aus Angst vor weiteren tödlichen Auffahrunfällen, würde man ihn auslachen. Wer volle Klubs oder Stadien meidet, weil er Angst hat, erdrückt zu werden, wird mitleidsvoll beäugt.

Angst ist nicht nur unvernünftig, sondern auch höchst selektiv. Der Angst vor dem Terrorismus – statistisch gesehen eine geradezu absurde Befürchtung – , wird der rote Teppich der Hochachtung ausgerollt, andere Ängste, etwa vor dem sozialen Absturz oder vor Unfällen am Arbeitsplatz, werden hingegen heruntergespielt. Vor Jahren erzählte mir ein Minenarbeiter, er schaffe es nur, in den Fahrstuhl zu steigen, wenn er mehrere Schnäpse gekippt habe. Es wurde aus Staatsräson einfach von ihm erwartet, dass er seine Ängste überwindet.

Seit wann wird der Pathologie der Angst derartige Relevanz zugesprochen, höchste Priorität eingeräumt?

Heute wird einem aus Staatsräson nahegelegt, sich wegen Terroristen und Flüchtlingen in die Hosen zu machen. Der Grund ist klar: Es gibt opportune und weniger opportune Ängste. Und die Angst vor den Terroristen fördert den Ausbau des Sicherheitsstaats und den Abbau bürgerlicher Rechte, was – wie ein kursorischer Blick in die Geschichte bestätigt – wiederum reichlich Grund bietet, tatsächlich Angst zu haben.

Auf der Hängebrücke

Vor Jahren stand ich mit einem Freund und seiner Frau auf einer Hängebrücke, die über eine Schlucht führte. Die Brücke wackelte, war aber völlig sicher. Zwischen subjektiver und objektiver Gefahr klaffte dennoch ein Abgrund: Die Frau meines Freundes bekam eine Panikattacke. Wir konnten sie nicht dazu bewegen, einen weiteren Schritt zu gehen, weder vorwärts noch rückwärts. Nach einigen Schritten verkrampfte sie total, krallte sich ans Seil, das als Geländer fungierte, und erstarrte auf der Brücke. Argumente halfen nicht weiter, gutes Zureden auch nicht.

Wir mussten die von Panik vollkommen gelähmte Weggefährtin am Ende mittels körperlichem Zwang dazu bringen, die Brücke zu überqueren, um sie und uns zu schützen. Eine Situation, in der wohl niemand auch nur daran gedacht hätte, uns zuzurufen: Ihr müsst ihre Angst verstehen! Besonders pervers ist die Angst des Elefanten vor der Maus. Ich weiß nicht, wie oft ich in den letzten zwei Jahren lesen oder hören musste, die Deutschen hätten verständlicherweise Angst vor den vielen Flüchtlingen. Müsste diese Übertreibung nicht sofort mit dem Hinweis auf die Angst der Flüchtlinge entlarvt werden?

Dabei sind es doch die Flüchtlinge, die alles verloren haben; sie sind traumatisiert, sie sind umgeben von fremden Gesetzen und unverständlichen Sätzen, sie sind dem Wohl und der Gnade anderer völlig ausgeliefert. Und doch haben die gut genährten, überwiegend abgesicherten und relativ wohlhabenden Einheimischen angeblich Angst. Das ist doch ein Hohn!

Verlogener Selbstschutz

Diese Umkehrung der Verhältnisse wäre einfach nur lachhaft, führte sie nicht eine alte Konstante fort: die „Angst“ der Weißen vor den Fremden, vor den Barbaren, vor den Schwarzen. Eine Angst, die wie viele Ängste immer wieder instrumentalisiert worden ist, um gegen die Schwachen aggressiv vorgehen zu können, in einer Art vermeintlichem (und verlogenem) Selbstschutz.

Die Argumente aus dem 19. Jahrhundert, die zu imperialer Unterdrückung und teilweise zum Genozid geführt haben, erfahren dieser Tage eine grässliche Renaissance. Das deutsche Volk gelte es zu schützen, heißt es. Gegen die Schwächsten und Ärmsten, die zwar objektiv betrachtet völlig machtlos sind, aber im phantasmagorischen Inkubator hochgezüchteter Ängste eine apokalyptische Gefahr darstellen.

Die Angst vor einer vermeintlichen Islamisierung speist sich nicht aus konkreten Erfahrungen mit Muslimen, sondern aus dumpfen Verlustgefühlen, die ganz andere Ursprünge haben und sich unter der Hand in ausländerfeindliche Ressentiments verwandeln. Es ist, als wäre Angst das „Opium des Volkes“, eine Abwendung von Freiheit und Autonomie, eine Selbstbenebelung.

In Shakespeares „Julius Caesar“ sagt Caesar, kurz bevor er getötet wird, den unsterblichen Satz: „Der Feige stirbt schon vielmal, eh’er stirbt, / Die Tapfern kosten einmal nur den Tod.“

Was wäre es schön, wenn wir die alte Tugend der Tapferkeit wieder entstauben würden.

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