Notunterkunft als Hochsicherheitstrakt: Wer in die Hangars will, muss sich durchleuchten lassen

Warten in der Wabe

asyl Alles, was Muna Khudor besitzt, passt in zwei Taschen. Seit fast einem Jahr lebt die Irakerin in den Hangars der Notunterkunft Tempelhof und hofft, dass es endlich weitergeht. Aber warum viele Flüchtlinge so lange dort ausharren müssen, kann niemand erklären

Text Susanne Memarnia
Fotos Sebastian Wells

Die Luft in Hangar 7 ist erfüllt von Gesumm, Geschäpper und Geplapper. Es ist früher Nachmittag, dem Geräuschpegel nach zu urteilen scheinen viele der 400 BewohnerInnen „zu Hause“ zu sein. In den Gängen zwischen den Schlafkabinen, die auch „Waben“ genannt werden, ist viel los. Arabische Musik schallt durch die Halle, ein Mann singt laut mit, eine Sechsjährige flitzt auf Inlinern vorbei, Gruppen von Erwachsenen unterhalten sich.

Muna Khudor hat sich für den Fotografen schick gemacht. Sie ist dezent geschminkt und steckt gerade mit einer Nadel ihr braunes Kopftuch fest, als sie auf unser Klopfen an die Pressspanwand den Vorhang zu ihrer Wabe beiseite schiebt.

Seit ein paar Wochen lebt sie allein auf den 12,5 Quadratmetern – und man kann sich nur schwer vorstellen, wie in dieser mit drei Doppelstockbetten vollgestopften, nach oben offenen Kabine sechs Menschen leben sollen. Außer den Betten gibt es keine Möbel, es wäre auch kein Platz dafür. Muna Khudor bewahrt ihre Habseligkeiten, die in zwei Taschen passen, auf einer leeren Matratze auf.

Wenn es nicht zynisch klänge, könnte man sagen: Die Wabe ist Khudors Reich. Fast den ganzen Tag liegt die schüchtern wirkende Frau auf dem Bett und liest auf ihrem Handy. Nur zu den Mahlzeiten steht sie auf, manchmal geht sie vor der Hangartür rauchen, und einmal im Monat zum Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten ihr Taschengeld von 135 Euro abholen. Seit fast einem Jahr geht das so. „Am 11. November bin ich hierher gekommen, das war mein 39. Geburtstag“, erzählt die Irakerin auf Arabisch, eine der SozialbetreuerInnen übersetzt.

Wie hält man das so lange aus, in dieser Enge, diesem Lärm? „Ja, es ist nicht bequem“, sagt Khador mit Zurückhaltung. Sie könne nachts nur schlecht schlafen, sei tagsüber immer müde. Auch das Essen sei nicht gut, sagt sie auf Nachfrage – man merkt, sie will nicht klagen. Denn ihr eigentliches Problem ist ein anderes: dass es einfach nicht weitergeht.

Unterkünfte: Derzeit leben rund 22.000 Menschen in Notunterkünften, davon etwa 4.500 in Turnhallen. 13.000 Asylbewerber leben in Wohnungen, 12.000 in Gemeinschaftsunterkünften, also Heimen mit gewissen Standards bezüglich Platz pro Person, Ausstattung, Betreuungsschlüssel sowie mit Kochmöglichkeit. Rund 2.000 Asylbewerber leben in Erstaufnahmeeinrichtungen, wo es Vollverpflegung gibt, ansonsten aber die gleichen Standards wie in Gemeinschaftsunterkünfte.

Container: Für die Turnhallen- und Hangar-Bewohner sollten ursprünglich bis Jahresende 30 Containersiedlungen, sogenannte Tempohomes, entstehen. Die Zahl reduzierte der Senat im September auf 18. Laut Medienberichten sind bis Jahresende wohl nur noch 11 Tempohomes zu erwarten, zwei sind in Betrieb (Altglienicke und Marzahn).

Schnellbauten: Verzögerungen gibt es auch beim Bau weiterer Unterkünfte in modularer Bauweise. Davon sollen einmal bis zu 30 entstehen, doch erst zwei sind im Bau. sum

Muna Khador hat einen Ehemann, auch er Iraker, der seit 20 Jahren in Deutschland lebt, wie sie erzählt. Vor fünf Jahren haben sie in ihrer Heimatstadt Mossul geheiratet, doch der Antrag auf Familienzusammenführung wurde abgelehnt, weil Khudor keine Deutschkenntnisse nachweisen konnte. Nachdem 2014 der IS Mossul eroberte, machte sie sich über die Balkan-Route auf den Weg nach Berlin. Warum es die Behörden nicht erlauben, dass sie zu ihrem Mann nach Rügen zieht, versteht sie nicht. „Ich habe nächtelang geweint“, sagt sie. „Aber es hilft ja nichts.“

Und so sitzt sie in ihrer Wabe und wartet. Spazieren gehen oder die Stadt erkunden mag sie nicht. Früher, als noch zwei andere alleinstehende Frauen in ihrer Wabe wohnten, sei sie manchmal mit ihnen aufs Tempelhofer Feld gegangen.

Und seither? Kopfschütteln, Schulterzucken. Sie besucht keinen Deutschkurs und interessiert sich auch nicht für die vielen anderen Aktivitäten in den Hangars, die eine große Zahl von ehrenamtlichen Initiativen, Bildungsträgern und Vereinen anbieten. „Ich habe dafür keine Energie, bin zu niedergeschlagen“, sagt Khudor. Und: „Meine Gedanken sind so durcheinander, ich denke immer an meinen Mann und meine Familie.“

Zermürbendes Warten

Die Ungewissheit wie es weitergeht ist wohl das größte Problem für viele der über 60.000 Geflüchteten, die seit vorigem Sommer in die Stadt kamen. Dies gilt umso mehr für jene, die in Notunterkünften leben, die ja per Definition eine Übergangslösung sind. Was macht das mit einem, wenn der Übergang nicht zu enden scheint?

Rund 1.300 Menschen leben in den Hangars, davon etwa 400 seit 2015. „Man kann sich hier arrangieren, wenn man weiß, wie lange man bleiben muss“, sagt Maria Kipp, die beim Betreiber Tamaja für die Öffentlichkeitsarbeit verantwortlich ist. Aber genau das könne niemand den Menschen sagen. „Dazu kommen andere Unsicherheiten: Wann der Integrationskurs beginnt, wann der Asylentscheid fällt, wann man Arbeit findet.“ Je länger alles dauert, desto schwieriger werde die Situation für die Menschen. „Nichts ist schlimmer als keinerlei Kontrolle zu haben über das eigene Leben“, sagt Kipp.

Viel Platz gibt es rings um das Flughafengebäude

Und so haben, wie Geschäftsführer von Tamaja, Michael Elias, sagt, viele Flüchtlinge in den Hangars psychische Probleme. Entweder sie seien ohnehin traumatisiert von Ereignissen in der Heimat oder auf der Flucht – oder aber die widrigen Umstände hier machten sie mutlos und mürbe. „Nach einer gewissen Zeit gibt es immer Hospitalisierungstendenzen in Notunterkünften“, hat Elias festgestellt. Seine Firma betrieb zwischenzeitlich vier Notunterkünfte in Berlin, mittlerweile sind es nur noch zwei, weil eine Turnhalle und eine Schule geschlossen werden konnten.

Drei Suizidversuche gab es laut Elias in den Hangars, davon sei einer „wirklich ernsthaft“ gewesen. „Zum Glück gibt es hier keine dunklen Ecken und eine ideale Sozialraumkontrolle“, sagt er. So habe man den jungen Mann noch rechtzeitig finden können. Trotzdem habe er danach auf eigene Kosten acht Psychologen eingestellt – „und die sind immer gut beschäftigt“.

Auch sonst hat man mit der Zeit dazu gelernt. So hat der Caterer 40seconds vor einigen Monaten begonnen, BewohnerInnen als PraktikantInnen zu beschäftigen, um das Essen zu verbessern, wie eine Mitarbeiterin erzählt. „Das sind unsere Experten, die wissen, was angesagt ist und wie man es kocht.“

Beim Thema Sicherheit ist der Betreiber nach einer Massenschlägerei an der Essensausgabe im vergangenen November ebenfalls neue Wege gegangen. Seither müssen alle, auch die BewohnerInnen und MitarbeiterInnen, durch eine Sicherheitsschleuse wie am Flughafen, bevor sie die Hangars betreten können. Vor allem aber hätten sie die Sozialarbeit ausgebaut, um „Ventile zu schaffen“, erklärt Elias. Spezielle Deeskalationsteams – mehrsprachig, gemischtgeschlechtlich und in Konfliktlösung geschult – seien seither rund um die Uhr im Einsatz.

Muna Khudor über das Leben im Hangar

„Meine Gedanken sind so durcheinander. Wir sind aus Krieg und Zerstörung gekommen und haben hier Sicherheit gefunden. Aber keine Ruhe“

Verbesserte Sicherheitslage

„Diese Rechnung ist aufgegangen, die Sicherheitslage ist seither stabil“, sagt der Chef. Die Polizei bestätigt auf Anfrage, „dass der Betreiber, unter anderem durch die Zusammenarbeit mit der Polizei, deutliche Verbesserungen geschaffen hat, die sich positiv auf die Sicherheitslage ausgewirkt haben“.

Ohnehin gibt sich Tamaja Mühe, den BewohnerInnen das Leben so erträglich wie möglich zu machen. In jedem der vier bewohnten Hangar gibt es ein Team aus Sozialarbeitern, -betreuern, Psychologen und Sprachmittlern, die tagsüber bei Fragen und Problemen ansprechbar sind. Es gibt einen Frauenraum und eine Frauenbeauftragte, Kinderbetreuungsräume und eine extra Kinderschutzbeauftragte. In Sachen präventiver Kinderschutz sei Tamaja in der Tat vorbildlich, heißt es bei der Organisation Save the Children, die mit dem Betreiber zusammen den Kinder- und Jugendbereich organisiert.

Es gibt zudem eine von Vivantes betriebene Arztpraxis, einen 24-Stunden-Medipoint und die von den Freiwilligen von „Tempelhof hilft“ organisierte Kleiderkammer sowie das THF Café samt seiner Bücherausleihe namens Asylothek.

„Ich habe nächtelang geweint“, sagt Muna Khudor in ihrer Schlafkabine in Hangar 7

Und trotzdem: Wer still ist wie Muna Khudor, geht in diesem Riesenbienenkorb unter. Fast ein Jahr lang lebte sie in den Hangars, ohne dass jemand von ihren Problemen erfuhr. „Erst vor drei Wochen fand ich sie, weinend. Dann hat sie alles erzählt“, sagt die Sozialbetreuerin aus Hangar 7, die das Gespräch dolmetscht. Sie habe dann Kontakt zu einem Anwalt vermittelt, der regelmäßig zur Beratung in die Notunterkunft komme. „Muna wirkt jetzt ruhiger, kommt oft zu uns vom Sozialteam und fragt, ob sie helfen kann.“ Der Anwalt habe ihr wohl Mut gemacht. Sogar einen Kochkurs im Hangar wolle sie jetzt besuchen.

„Vielen BewohnerInnen“, sagt Elias, „geht es einerseits schlechter, weil sie schon zu lange hier sind. Aber andererseits besser, weil sie jetzt nach und nach Arbeit finden.“ Seit einigen Monaten hat die Senatsverwaltung für Arbeit in Hangar 6 ein Willkommen-in-Arbeit-Büro eingerichtet. Allerdings bekämen die meisten Flüchtlinge dort nur Maßnahmen zur Qualifizierung und Ausbildung vermittelt, relativ wenige hätten qualifizierte Arbeitsverträge, ergänzt Tamaja-Mitarbeiterin Kipp. „Sie schnuppern drei Monate hier, drei Monate dort. Das ist besser als nichts aber auch demotivierend, weil ein klares Ziel fehlt“, kritisiert sie.

Die Unternehmer in Berlin müssten sich aber auch mehr trauen, Flüchtlinge einzustellen, findet Elias. „Das sind großenteils berufstätige, gestandene Menschen, die sich sehr schnell integrieren können, wenn Sprache lernen und arbeiten zusammen gehen“, ist seine Erfahrung.

Die BewohnerInnen: Derzeit leben rund 1.300 Menschen in den Hangars 2, 5, 6 und 7, davon 110 Kinder bis sechs Jahre und 290 im Alter von sieben bis 18. Insgesamt gibt es 2.070 Plätze. Die meisten BewohnerInnen kommen aus Syrien, Afghanistan, Irak, Iran und Moldawien. In Hangar 1 gibt es Sportangebote, in Hangar 3 sind Lager und Küche.

Die Schlafkabinen: Die sogenannten Waben sind mit drei bis sechs Doppelstockbetten eingerichtet und haben eine Größe von 12,5 bis 25 Quadratmetern – macht pro Bewohner rund 2m[2]. Jeder Hangar verfügt über Kombi-Kabinen mit Dusche, WC und Waschbecken. In Hangar 7 mit einer Gesamtkapazität von 576 Plätzen gibt es 36 davon.

Die Betreuung: Der Betreiber Tamaja beschäftigt 109 Mitarbeiter im Bereich Sozialarbeit (Sozialarbeiter, Sprachmittler, Psychologen, Kinderbetreuer, Ehrenamtskoordinatoren) und knapp 100 weitere in Verwaltung, Hausmeisterei und Hauswirtschaft. sum

80-Cent-Jobs für Flüchtlinge

20 BewohnerInnen hat der Tamaja-Chef inzwischen selber angestellt. Diese „Integrationsasstistenten“, wie sie betriebsintern genannt werden, arbeiten in den Bereichen Verwaltung, Hauswirtschaft, Hausmeisterei, Kommunikation und Organisationsentwicklung. Dazu haben 97 BewohnerInnen öffentlich geförderte „Gelegenheit zur Arbeit“-Stellen (GzA), sind also „Ein-Euro-Jobber“, wobei Flüchtlinge nur noch 80 Cent pro Stunde bekommen. Ungerecht findet Elias allerdings, dass seine angestellten BewohnerInnen die Kosten für die Unterkunft von ihrem Gehalt abgezogen bekommen. „Sie haben am Ende sogar weniger Geld übrig als die GzA-Leute.“

Was also ist zu tun? Elias fordert eine „Gesamtkraftanstrengung“ des Senats, um die Herausforderungen anzugehen. „Soziales, Wohnungen, Arbeit: Das hängt alles zusammen.“ Er befürchte aber, dass der politische Druck derzeit nicht groß genug ist. Es sei zu ruhig in der Bevölkerung und auch den Heimen. „Die Stimmung ist hier ja aufgrund des großen Engagements so vieler Menschen gar nicht so schlecht“, findet er.

Muna Khador sieht das vermutlich anders. „Wir sind aus Krieg und Zerstörung gekommen und haben hier Sicherheit gefunden“, sagt sie. „Aber keine Ruhe.“