Anschläge Es ist weitgehend aussichtslos, brotlos und zudem eine immense Schinderei. Und doch ist die Faszination für das Schriftstellern ungebrochen. Warum? Drei Porträts
: Zweitausend Zeichen sind eine Seite

Die Debütantin

Leben, Sterben, Lieben. Das kennen alle, aber darüber schreiben? Karen Köhler hat gezeigt, dass sie das gut kann

Trug früher einen pink gefärbten Irokesenschnitt: Karen Köhler Foto: Julia Klug

Von Annabelle Seubert

Jemand steigt auf einen Hochsitz im Wald – und bleibt. Jemand steigt von einem Kreuzfahrtschiff, verlässt seine Crew, Kabine 5328, läuft an Land, norwegische Hügel empor – und bleibt. Jemand steigt auf eine Vespa, kurvt Süditaliens Küste runter, lässt sich den Rucksack klauen – und bricht vor dem Vesuv in Tränen aus. Nicht, weil der Rucksack weg ist. Bloß, weil der Vulkan so schön ist.

Jemand steigt in ein Flugzeug, hungrig auf Adrenalin, Lederkappe auf, Gurte am Körper, mit vier Haken an einen Fallschirmlehrer gebunden, „der Pilot macht die Tür auf, es ist kalt und laut“, und unter keinen Umständen kann man da raus, niemand kann das, man schreit, klammert sich am Türrahmen fest, „nein!“ – und springt.

Der erste Sprung

Vier Geschichten, drei sind Literatur. Die letzte ist echt, eine aus Karen Köhlers Leben, da war sie 18 und noch keine Schriftstellerin, gestrandet in San Francisco. Nach dem Abi war sie zu ihrem langjährigen Brieffreund gereist, von Hamburg an die Westküste der USA; es ging nicht lange gut: Nach einem Streit wirft er sie aus der Wohnung, weil er sich das anders vorgestellt hat mit ihr – und sie sich das mit ihm. Also hockt sie da auf ihren Sachen, hockt sich ins nächste Café. Und wird vom Barista gerettet, bevor sie richtig trauern kann. Bin rausgeflogen“, sagt sie. „Bei uns ist ein Zimmer frei“, sagt der Barista. Er nimmt sie mit in seine WG, einen Tag später mit zur Drop Zone. Dort sieht sie seinen Fallschirm und folgt ihm ins Flugzeug, sieht ihn unter Wolken sinken. Sie landet, holt 150 Dollar – lässt sich wieder in die Luft befördern. Es wird Karen Köhlers erster Sprung.

Karen Köhlers erstes Buch wird ein Erzählband. „Wir haben Raketen geangelt“ erschien vorletzten Sommer, gefolgt von Rezensionen der Euphorie. „Da ist Meisterschaft am Werk“, stand in der Zeit, „Debüt-Erfolg des Jahres“ in der Süddeutschen, „Debüt des Jahres“ im Tagesspiegel. Eines, das sich als das liest, was es ist – ein Wagnis; mit Kapiteln, die mitunter aus einem Alltagstelefonat („Liegst du noch im Bett?“ – „Scheiße. Wie spät?“) oder der Beschriftung eines Mixtapes bestehen (Nouvelle Vague / „This is not a Lovesong“). Mit Storys, in denen ein „Ich“ oft ein „Du“ vermisst.

Meist ist in Köhlers Geschichten jemand im Umbruch oder Aufbruch oder ziemlich weit unten, Ground Zero. Oder jemand steht am Rand eines Vulkankraters und hat „plötzlich eine Ahnung von der Fragilität der Dinge“. So einen Caspar-David-Friedrich-Moment, kleiner Mensch vor großer Landschaft. Karen Köhler wird Schauspielerin, Illustratorin, Performancekünstlerin. Schreibt erste Thea­ter­stücke, erste literarische Stücke, bekommt Stipendien. Bekommt eine Agentin, einen Verlag, wird zum Bachmann-Preis nach Klagenfurt eingeladen, 2014 – bekommt die Windpocken und kann nicht hin.

Aufregung, Branchenaufmerksamkeit. Lesereisen, Hotel­betten. Sekt am Abend, Sandwich am Bahnhof, ihrem Buch wird ein Aufkleber aufgedrückt, „Bestseller“ – „ist das die mit den Windpocken?“.

Und dann?

Wenn der Trubel nachlässt? Wenn man durch Island und die Niederlande getourt ist, endlich sagen kann: „Ich bin Autorin“ – der Satz braucht Übung –, in letzter Zeit häufiger gefragt wird: „Und wann kommt der ­Roman?“, alle auf dein nächstes Baby zu warten scheinen; wenn man bei einem Literaturfestival in der ­Uckermark im Gras sitzt, bei Spätsommerwind, Kaffee und Kuchen, als „Debütantin des Jahres“ 2014: was denkt man dann?

Dass es gut ist, sich ein paar Geheimnisse zu bewahren, sagt Karen Köhler. Die in ihrer Jugend einen „pink gefärbten Irokesenschnitt“ trug, wie sie sagt, und jetzt dunkles Haar zum dunklen Kleid trägt. Eine Szene wie aus einer Kultursendung auf Arte – wie sie hier auf der Wiese in Brandenburg sitzt, die Beine angezogen, mit sanfter Stimme meint, „die Dinge, die erzählt werden mussten“, habe sie erzählt. „Es ist in mir drin.“ „Irgendwie probiert der Geist vieles aus“ – nachts, morgens, 5 Uhr, 6 Uhr, wenn sie überlegt, wie eine Geschichte weitergehen und ausgehen soll –, „was noch nicht Wort ist“.

„Wen willst du damit provozieren?“, hatte ihre Mutter damals gefragt und auf ihren Irokesenschnitt gezeigt. „Mich könntest du beeindrucken, wenn du in dreißig Sprachen ,Guten Tag‘ sagen könntest.“ Dass man sie daran messen kann, wie sie handelt, habe sie sich gemerkt, sagt Köhler. Eine Menge Termine – Interviews und Fernsehauftritte – habe sie erst mal abgesagt, obwohl sie wusste, „dass man danach mehr Bücher verkauft“. Don’t believe the hype.

Über das erste Buch

„Die Dinge, die erzählt werden mussten, habe ich erzählt. Es ist in mir drin“

KAREN KÖHLER, Autorin

„Es wird immer dieses Gefühl geben, immer nur die zu sein“, sagt sie. Die in den Betrieb Gefallene, nicht an einem Literaturinstitut Gewesene. Und dann die Frage, was sie eigentlich bekannt gemacht hat: der Zufall? Ihr Stil? Waren’s die Windpocken? Hin und wieder packt es sie, dann denkt sie: „Ich meld mich jetzt für einen Workshop bei Jan Brandt an“ – Schriftsteller, Literaturwissenschaft studiert, das Debüt für den Buchpreis nominiert – „und lerne, wie ich einen Roman schreibe.“ Aber, mein Gott, Zweifel seien halt Teil des Ganzen. „Schleifmesser“ außerdem.

Zumal sich die Themen halten, die sie sucht und beschreibt: „Dinge, die wir alle kennen“, Leben und Sterben, Lieben und Verlieren. Eigentlich bestimmen sie das Sein: In ihrem Alter, sagt Karen Köhler, mit Anfang 40, „sind die ersten Beziehungen geführt, vielleicht schon manche Freunde tot, die Eltern werden krank“. Oder sie müssen sich umstellen, einstellen auf die Kinder. Für ihre eigenen Eltern sei es nicht einfach gewesen, ihren Beruf zu begreifen – Schriftstellerin! Der Vater war Feuerwehrmann, die Mutter Altenpflegerin, ihre Jobs waren messbar. Und sie, Karen, schaute sich „zur Recherche“ für eine nächste Erzählung den ­ganzen Tag lang YouTube-Videos an. Fuhr öfter mit dem Rad durch die Gegend, mal da hin, mal dort hin. Prägte sich Landstriche ein.

Einfach, weil Landstriche bei Karen Köhler Literatur werden können – und es nicht schadet, unterwegs zu sein, wenn man etwas herausfinden will.

Jemand, eine Frau

„Konnte nicht aufhören zu denken: Wer ist diese Person? Und was willst Du von ihr?“, heißt es in einer ihrer Geschichten – der mit dem Gefühlsausbruch vor dem Vesuv. Jemand, eine Frau, steigt auf eine Vespa und kurvt Süditaliens Küste runter. Sie hat ihren Mann mit der betont lakonischen Notiz „Bin ­ ‚Zigaretten holen’“ zurückgelassen. Jetzt schickt sie ihm Postkarten aus der Katharsis, aus Rom, Ischia, Neapel, alle paar Tage eine. „Komm her“, schreibt die Frau zuletzt, da ist sie ganz im Süden angekommen. Sitzt in einem 27-Menschen-Ort auf der Insel Stromboli, glücklich über den Grappa, ihr gestohlenes Gepäck – abgefallenen Ballast – und die Bougainvilleen, die blühen. Schreibt: „Bring den Ring mit. Ich warte hier auf Dich.“ Und bleibt.

Der Versehrte

Schübe zwischen Manie und Depression: Thomas Melle, Buchpreis-Nominierter, hat in seinem aktuellen Roman über seine bipolare Störung geschrieben. Er musste, sagt er

Erzählt von sich als einem, der in der Manie seiner Verlegerin in den Rücken stößt: Thomas Melle Foto: Karsten Thielker

Von Klaus Raab

Thomas Melle, in ein schwarzes Hemd und einen anthrazitfarbenen Pullover mit V-Ausschnitt gekleidet, trinkt während des 54:38 Minuten dauernden Gesprächs im Außenbereich des Berlin-Kreuzberger Lokals Zitrone eine große Cola aus einem Glas, das er, um den herumschwirrenden Wespen das Ziel zu nehmen, mit einem nachträglich georderten Bierfilz bedeckt, und raucht mehrere Zigaretten, während am Nachbartisch ein Englisch sprechender Mann sein Gegenüber über seine Wohnsituation in New York aufklärt.

Das alles ist wahr; und dann, könnte man ja annehmen, enthält es vielleicht auch eine Wahrheit über den Schriftsteller Thomas Melle.

Der Punkt ist nur: Für Melle sind solche unförmigen, tagebuchhaften Zusammenfassungen des Beobachtbaren nichts. Sagt er, wenn man ihn nach Karl Ove Knausgård fragt, mit dem er in den vergangenen Wochen mehrmals in eine Reihe gestellt wurde.

Knausgård, der norwegische Schriftsteller, der mit seiner mehrbändigen literarischen Aufbereitung eigener Versehrtheiten zu einem der gegenwärtigsten Schriftsteller dieser Zeit wurde, stellt den Sog des Authentischen – in den Literaturjurys in den vergangenen Jahren ebenso sehr geraten sind wie viele Leser – unter anderem über die Fülle an Details her. Melle aber schreibt in seinem nonfiktionalen Roman „Die Welt im Rücken“, er glaube ihm „kein einziges Wort“.

„Roh, unbehauen, unförmig“ nennt Melle Knausgårds Schreiben. „Er tut halt so, als sei alles, was er schreibt, wirklich erinnert“, sagt Melle. „Dass das zutrifft, muss man ohnehin nicht annehmen – und es spielt auch keine Rolle. Mir geht aber einfach diese Detailversessenheit wahnsinnig auf die Nerven. Ich möchte nicht wissen, welche Farbe die Tasse hatte, aus der er vor zehn Jahren Kaffee trank, oder welches Gedicht er nur halb verstanden hat in seinem Studium. Es wird langweilig und dadurch auch unwahr.“

Die Herstellung von Authentizität müsse durch die Formbildung gegangen sein, sagt er. „Es kann nicht darum gehen, einfach Tagebücher zu veröffentlichen, jedenfalls gerade nicht für mich.“

Fragt man Melle, warum er schreibt, ruft er als einen frühen Bezugspunkt zu Büchern unter anderem Karl Mays Autobiografie „Ich“ auf. „Ich fand das interessant, weil er vieles beschönigt, also eigentlich lügt. Da konnte ich mir Gedanken machen, warum man so mit der Welt und sich umgeht, und wie der Text dann im Verhältnis zur Wirklichkeit und zur Wahrheit steht.“

Im Zentrum der Zeichen

Wie steht ein Text im Verhältnis zur Welt? Das ist eine Frage, die immer wieder als Elefant im Raum steht, wenn eine Schriftstellerin oder ein Schriftsteller – wie nun Melle – von den Annäherungen des eigenen Lebens an die Katastrophe erzählt. Wenn ein Roman nicht nur, wie es im Vorspann zu Filmen manchmal heißt, „auf einer wahren Geschichte beruht“, sondern auch noch auf der des Autors selbst, wie im Fall von Thomas Melle.

Sein Roman „Die Welt im Rücken“, mit dem er auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis stand, ist eine Geschichte seines Lebens mit der bipolaren Störung, eine Geschichte in drei manisch-depressiven Schüben. Melle erzählt von sich als einem Mann, der in der Manie Radfahrer an Ampeln vollquatscht; der seiner Verlegerin bei einem Empfang in den Rücken stößt; der in seinen Mitmenschen seine Figuren wiedererkennt, nicht umgekehrt; der Sex mit Madonna zu haben glaubt; und der sich als Adressat von Politikerreden fühlt, allerdings nicht als Bürger, sondern ganz persönlich – „immer steckten darin auch inhärente Botschaften an mich, genau mich, hier an diesem Schreibtisch. Schröder redete über meine Kohlenkellerkindheit, Fischer mahnte mich zur Mäßigung.“

Über die Kunst von Sätzen

„Schreiben ist für mich die ideale Existenzform, weil es ermöglicht, noch aus den hässlichstenKontexten Schönheit zu generieren“

Thomas Melle, Autor

Der also ins Zentrum der Zeichen gerät, die er wahrnimmt. Der glaubt, die ganze Welt meine mit ihrem Handeln nur ihn. „Manchmal glaubte ich, die Spatzen vom Dach pfiffen tatsächlich unsere Namen, und die Kinder in Kreuzberg meinten mit ihren Rollenspielen uns“, schreibt er.

Man darf einen Autor natürlich nicht mit seiner Figur verwechseln. Melle schrieb als „zwischenzeitlich Geheilter“, wie er es nennt, über Melle, den Maniker, und Melle, den Depressiven; kontrolliert und im vollen Bewusstsein seiner literarischen Mittel. „Wenn ich eine Manie beschreibe, begebe ich mich wie in eine Filmkulisse“, sagt er. „Ich kann alles nachempfinden, aber eher wie ein Schauspieler, der sich selbst spielt, sich mit sich selbst identifiziert, aber aus der Rolle, die ja keine Rolle ist, stets wieder aussteigen kann.“

Es steht allerdings außer Frage, dass er über sich schreibt. Melle sagt, „es war eine Notwendigkeit, dieses Buch zu schreiben“. Er nennt es nicht therapeutisch, aber er sagt, er habe sich freischreiben wollen von den manischen Figuren, seinen, wie er sie nennt, „Wiedergängern“, die in viele seiner vorherigen Geschichten eindrangen.

Tatsächlich ist es an manchen Stellen in „Die Welt im Rücken“, als würde Melle seine bisherigen Erzählungen und Romane um die Fiktion aufräumen. Als würde er schon einmal geschriebenen Passagen, in denen er die Kämpfe zum Teil manisch-depressiver Figuren verhandelte, ihre Wirkmacht nehmen, indem er sie, nun als echt beglaubigt, wiederholt.

Er habe da stets etwas Größeres zu bearbeiten gehabt, sagt Melle, „das ich nicht ganz ausbreiten konnte, aber doch mitschreiben, mitthematisieren musste. Ich kam dann, wie in einer glücklichen Verlegenheitslösung, auf diese halbfiktiven Figuren. Nur, da habe ich schließlich gemerkt, dass ich diese Bewegung jetzt auf ihren Nullpunkt hinführen musste. Ich musste die Erzähler- und die Autorenperspektive zusammenführen.“

Es gibt Sätze in „Die Welt im Rücken“, die im Duktus der Sekundärliteratur geschrieben sind. Das ist wohl ein Grund, warum das Buch bisweilen voyeuristisch wie eine Krankenakte gelesen wird. Vielleicht verwechseln die Leute aber auch Verständlichkeit mit einem Striptease. Melle jedenfalls sagt, er habe sich gar nicht ausgezogen, er habe nur das Licht so eingerichtet, dass es so aussieht.

Schriftsteller des Glücks?

Den Punkt, an dem sich Autor und seine Figuren nun treffen, nennt er Ground Zero. Was will er darauf errichten?

Den Punkt, an dem sich Autor und seine Figuren nun treffen, nennt er Ground Zero. An diesem Punkt ist er jetzt. Was will er darauf errichten?

Er würde gerne ein Zitat relativieren, sagt er, auf das er häufig angesprochen werde: dass er nun ein Schriftsteller des Glücks werden wolle. Er schreibt an einem Theaterstück über den Tod des Bürgertums und einem über die Tabuisierung von Krankheiten. „Bei der Prosa weiß ich noch gar nichts. Flaubert meinte ja, Madame Bovary handelt von der Farbe Gelb. Ich habe da so ein paar Farbtöne im Kopf, Richtung hellblau, ein paar ‚konzeptuelle Gefühle‘ – so nenne ich das für heute. Aber es ist alles noch recht unscharf.“ Dass er doch wieder über die dunklen Seiten schreibt, könne er nicht ausschließen, das, sagt er, wäre dann aber völlig in Ordnung so.

Das Schreiben, sagt er, sei für ihn „die ideale Existenzform“, weil es ermögliche, „noch aus den hässlichsten Kontexten Schönheit zu generieren. Ich finde das ein tolles Verhältnis, wie die Hässlichkeit und Schwierigkeit des Lebens in schönen Sätzen krass offenbar wird. Da entspringt eine Ästhetik der Wahrhaftigkeit.“

Wie steht Melles Roman im Verhältnis zur Welt?

So.

Der Dienende

Schreiben ist etwas, das einem passiert. Und das man dann nicht wieder los wird. So war es zumindest bei Bernd Cailloux, dem Chronisten der 68er

Bernd Cailloux, 71, müsste nicht mehr schreiben, will aber Foto: Jürgen Bauer

Von Jens Uthoff

Den Gedanken, Schriftsteller zu werden habe ich nie gehabt“, sagt Bernd Cailloux, der an einem dunklen Oktobertag in einem Restaurant in Berlin-Schöneberg sitzt und erklärt, dass die Sache mit dem Schreiben schleichend in sein Leben getreten sei. „Das ist keine bewusste Entscheidung. Es ist ein Prozess; etwas, das sich langsam ergibt.“ Genauso wenig wie er sich mit 40 Jahren, als er erste Erzählungen veröffentlichte, vorgenommen habe, nun aber Schriftsteller zu werden, denke er heute, nach mehr als 30 Jahren im Beruf, über das Aufhören nach. Nur so viel weiß er: Zwei Bücher will er noch machen. Mindestens.

Er hat viel gelacht

Cailloux trägt eine dunkelblaue Mütze auf dem Kopf, mit der er auch als Hafenarbeiter durchgehen könnte, dazu eine dünne, dunkle Baumwolljacke über schwarz-weiß-kariertem Hemd. Im Gesicht zeichnen sich Linien ab, die von einem bewegten und bewegenden Leben erzählen. Und von einem Menschen, der viel gelacht hat in seinem Leben.

Einundsiebzig Jahre ist Cailloux, sechs Erzählbände und zwei Romane hat er veröffentlicht. Sein erfolgreichstes Buch war „Das Geschäftsjahr 1968/69“ (2005), in dem der Chronist der 68er zurückblickt auf die Emanzipationsbewegung. Und das, was von ihr blieb. In „Gutgeschriebene Verluste“ (2012) setzte er die autobiografisch angelegte Reflexion fort.

Und er schreibt weiter. Immer weiter. Was treibt ihn an? „Ums Geld geht es nicht mehr, um Ruhm auch nicht. Das bisschen Ruhm, das ich hatte, kam mit dem 'Geschäftsjahr‘, das werde ich nicht steigern können. Ja, warum macht man das?“, fragt er sich nun selbst. „Als Dienst an der Literatur vielleicht?“

Cailloux hat eine bemerkenswerte berufliche Biografie. Er volontiert mit 18 als Journalist bei einer Zeitung in Bremen, wird kurz darauf Selfmade-Unternehmer: In Düsseldorf gründet er gemeinsam mit einem Freund Ende der Sechziger eine Firma, die Stroboskoplicht für Diskotheken verkauft. Sie machen in kurzer Zeit sehr viel Geld damit, überwerfen sich aber nach einer Weile. Cailloux geht nach Hamburg. Widmet sich Neuem, hängt in der Kunstszene rum, es ist immer noch ein Haufen Asche übrig. Der Unterschied zwischen ihm und dem Ko-Gründer sei, dass er von dem Geld Weltreisen gemacht habe, während sein Kompagnon Immobilien in Düsseldorf gekauft habe.

Von 1974 an bringt er mit Daniel Dubbe die Literaturzeitschrift Boa Vista heraus. 1977 geht er nach Berlin, „im Nachhinein betrachtet wohl eine unbewusste oder halbbewusste Entscheidung hin zum Schreiben, hin zur Kunst.“

Aus Lebensphasen ergeben sich Begegnungen, aus Begegnungen entstehen Zufälle, und aus Zufällen werden Schriftsteller gemacht. So war es zumindest bei Bernd Cailloux. Mitte der Achtziger sitzt er in einem philosophischen Redekreis. Einer aus der Runde empfiehlt ihn bei Suhrkamp. Wenig später erscheint sein Debüt „Intime Paraden“ (1986). Da seien ihm ein paar gute Geschichten gelungen, „Glück gehabt“.

Cailloux spricht von Glück, er spricht aber auch vom Schreiben als harte Arbeit. „Es ist ein Kampf voranzukommen. Am Ende weiß ich nicht, wann wo wie was entstanden ist. Es gibt Zeiten des Hängens und Würgens, und es gibt Zeiten, in denen es ein bisschen besser geht.“

Nur bei seinem jüngst erschienenen Buch „Surabaya Gold“, da sei es fast verdächtig gut gelaufen. „Ich kann aus vielen Epochen und Begegnungen schöpfen, so war es auch bei diesem Buch, es geht um Leute, die ich im Laufe meines Lebens getroffen habe. Eine Person ist im Prinzip eine Geschichte. Man muss nur die richtige aus dem geistigen Karteikasten ziehen. Dann muss man gar nicht mehr so viel arbeiten.“ Nach solchen Sätzen lacht Cailloux ein wenig in sich hinein, mal hauchend aus der Lunge, dann hüstelnd. Lakonie und Humor, Balsam des Schriftstellerdaseins. Wann er die finanziell schwierigsten Zeiten als Autor hatte? „Ja eigentlich immer.“ Er sagt aber auch, dass er eine Rente bekomme, die es nicht mehr unbedingt nötig mache, dass er schreibe.

Er aber tut es sich weiter an. Schlägt sich mit dem „Zwangssystem“ (Cailloux) Sprache herum. 26 Buchstaben Autorenknast. Wo andere der Sprache experimentell entflohen, sagt er: „Man kann nicht raus aus der Sprache, muss immer in ihr bleiben, sie schreibt vor, was man als nächstes zu machen hat.“ Seine Schreibtisch-Schichten in der heimischen Wohnung in Schöneberg gehen in der Regel von 13 bis 18 Uhr. Derzeit aber schreibe er so gut wie gar nicht: Persönliche Gründe, keine einfache Situation.

Und doch will er wieder an den Schreibtisch, will sich das Hängen, das Würgen wieder ­antun. Warum?

Er will sich das antun

Und doch will er wieder arbeiten, will sich das Hängen, das Würgen, den Kampf wieder antun. Warum?

„Ich will die 68er-Trilogie noch abschließen, diese Bewegung aus dem höheren Alter betrachten.“ Sein Lebensthema, es ist noch nicht auserzählt. Ein anderes Land wollte man schaffen. Geblieben sei davon nicht viel. „Zeitweise war ich angeekelt von der Gesellschaft, die sich da herauskristallisierte. Eine Gesellschaft, in der Macht und Geld bestimmt, wie es läuft. Das Ökonomische und das Ideelle bekommen wir wohl nicht zusammen.“ Ob er nicht auch den positiven 68er-Nachlass sehe? In den Lebensstilen, ja. Aber die Renaissance des Biedermeier, die sehe er auch allenthalben.

Die Faszination für die gelungene Erzählung, sie bleibt. Man merkt es an Sätzen wie diesen: „Der Schriftsteller handelt nicht, er schreibt und erinnert sich. Schreiben ohne Erinnerung gibt es gar nicht, und die Erinnerung ist wiederum die Zwillingsschwester der Erfindung.“ Eine Herausforderung, die es zu bewältigen gilt, mit etwas Glück gut. „Wenn man am Ende des Tages eine Seite geschrieben hat und zufrieden ist mit dem, was da steht, und dann auch noch ein Stück weiter weiß für den nächsten Tag und die nächste halbe Seite, dann ist das schon ein guter Tag als Schriftsteller.“

Man sucht es sich nicht aus, ein Leben als Schreiber.