Geschichten wandern durch die Stadt

Austausch In Berlin leben viele Autoren, die in anderen Sprachen schreiben. Anfänger und Profis, manche sogar Stars in anderen Ländern. Das Festival Stadtsprachen will ihnen Sicht- und Hörbarkeit verleihen

Wird viel gelesen in Taiwan: Kevin Shih-Hung Chen Foto: privat

von Hülya Gürler

In Taiwan ist es dem Schriftsteller Kevin Shih-Hung Chen schon passiert, dass ihn Fans regelrecht verfolgt haben, während er mit seinen Büchern auf Tournee ging. Chen ist dort bekannt. Sechs Bücher hat er bisher veröffentlicht. Es sind Romane und Kurzgeschichtensammlungen, darunter der Erzählband „Three ways to get rid of allergies, der Ende letzten Jahres auf Chinesisch und Englisch herauskam. In sechs Geschichten erzählt er darin über seine Familie und sein Heimatdorf. Drei Preise hat er schon für seine Bücher gewonnen. Ein Buch durchbrach sogar die Zensur in China.

Kevin Shih-Hung Chen ist Schriftsteller, Schauspieler und Journalist und seit 2004 Wahlberliner. Als Auslandskorrespondent arbeitet er für einen taiwanesischen Fernsehsender und schreibt für Zeitungen und Zeitschriften dort Kolumnen über den Berliner Alltag. Chen schreibt auf Chinesisch. Deshalb ist er in Deutschland, wenn überhaupt, höchstens aus kleinen Filmrollen in „Ghosted oder Global Player“ bekannt. Ihm macht das aber nicht viel aus. „Ich genieße die Anonymität und Freiheit in Berlin.“

Das Festival lädt zu Gesprächen, Lesungen und Übersetzerwerkstätten ein. Ein Format, Operation Tetra Pak, bietet an, spanische, russische, portugiesische und arabische Texte mithilfe der AutorInnen für ein breites Publikum zu übersetzen.

Gelesen wird in Cafés, Bibliotheken, in der Brotfabrik und der Kulturbrauerei und an vielen Orten mehr.

28. 10. bis 6. 11., Infos unter www. stadtsprachen.de

Angesprochen auf der Straße

Aber auch hier ist Chen vor seinen Fans nicht sicher. In zwei erfolgreichen Sammelbänden beschreibt er Berlin von seiner „rebellischen“ Seite, wie es in den englischen Titeln anklingt. Auf der Straße sprechen ihn taiwanesische Leser an, begeistert von seinen Berlin-Bücher: „Herr Chen, ich bin wegen Ihrer Bücher hier.“ So sehr muss der 40-Jährige seine besonders jungen Leser beeindrucken. Er selbst schiebt den Grund auf die Stadt selbst. „Berlin ist ein heißes Thema in Taiwan. Alle wollen hierherkommen.“

Es ist doch schade, dass einem Berliner oder, ganz allgemein, einem deutschsprachigen Publikum Texte wie die von Chen bisher entgehen. Das zu ändern ist das Ziel des zehntägigen Literaturfestivals „Stadtsprachen“, das heute beginnt. Mehr als 80 Autoren und Übersetzer aus 38 Ländern werden hier an mehreren, in der Stadt verteilten Veranstaltungsorten eine Bühne bekommen.

Der Schriftsteller Martin Jankowski von der Berliner Literarischen Aktion leitet das Festival. „In der Stadt leben spannende Autoren, die woanders super bekannt und erfolgreich sind, ja sogar als Kandidaten für den Nobelpreis gelten. Kaum jemand beachtet sie. Das liegt daran, dass diese Leute nicht auf Deutsch oder Englisch schreiben. So bleiben sie für den hiesigen Literaturbetrieb unsichtbar.“ Das Netzwerk Freie Literaturszene Berlin, ein Zusammenschluss von freien Literaturinitiativen, Autoren, Übersetzern und Kleinverlegern, schätzt, dass bis zu tausend Schriftsteller nichtdeutscher Sprache allein in Berlin leben, manche schon mehr als 30 Jahre. Genauere Zahlen hat auch die Kulturverwaltung der Stadt nicht.

Eine Förderung für Autoren, die in einer anderen Sprache als Deutsch schreiben, gibt es bisher nicht

Woran die Attraktivität Berlins für Literaten aus der ganzen Welt wohl liegt? „Berlin ist so etwas wie ein Drehkreuz an der Ost-West-Achse. Hier kann man für die verrücktesten Ideen Zuhörer und Mitstreiter finden“, meint Jankowski. „In Berlin findet jeder seinen Platz“, das schätzt Iunona Guruli aus Georgien an der Stadt. Nach Studienaufenthalten in zwei anderen deutschen Städten ließ sich Guruli vor vier Jahren in Berlin nieder. Sie übersetzt vor allem literarische Texte aus dem Georgischen ins Deutsche. Ein georgischer Schriftsteller, den sie dabei kennenlernte, fand, „dass meine Kurzgeschichten unbedingt als Buch rauskommen sollten“.

Der unbekannte deutsche Leser

Bekam Ermutigung von einem Kollegen: Lunona Guruli Foto: Graham Hains

Einige ihrer Erzählungen handeln von Gewalt in der Familie, Drogen und Depressionen. Das georgische Kultusministerium unterstützte sie beim Druck ihres Buchs „Die Diagnose“. Es erschien zunächst nur in Georgien und gewann dort einen bedeutenden Literaturpreis. „Ich war mir nicht sicher, wie deutsche Leser meine Erzählungen aufnehmen würden.“ Erst die positive Rückmeldung von Martin Jankowski habe sie dazu ermutigt, ihre übersetzten Texte auch in Deutschland weiterzureichen. Am Ende schloss Guruli einen Vertrag mit einer Münchener Literaturagentur ab.

Jankowski sieht sie auf dem besten Weg als Autorin – genau wie den 23-jährigen Steve Mekoudja. Der Informatik-Student aus Kamerun lebt seit vier Jahren in Berlin, schreibt auf Französisch und ist überzeugt: „Afrika hat noch viel Schönes und Interessantes zu erzählen.“ In der Kurzgeschichte „Tala Ngai – Schau mich an“ versetzt er sich mitfühlend in eine Frau aus dem Kongo hinein, die viel unter Gewalt von Männern zu leiden hat und anklagend ihre Stimme erhebt. Damit gewann er in Frankreich einen Preis für junge Schriftsteller, den Prix Stéphane Hessel. „Die Geschichten kommen zu mir“, sagt Steve Mekoudja. Das tat auch diese Geschichte, die er in zwei Nächten kurz vor Einsendeschluss aufschrieb.

Ähnlich wie Guruli geht es auch anderen Autoren, die in ihrer Muttersprache schreiben und veröffentlichen. „Viele können nicht glauben, dass sich deutschsprachige Leser für ihre Geschichten interessieren könnten“, glaubt Moritz Malsch vom Kreuzberger Literaturhaus Lettretage. Sie fielen durch das Raster des deutschen Fördersystems, „weil sie so etwas wie Autorenförderung aus ihren Herkunftsländern nicht kennen und hier nicht davon erfahren. Viele haben außerdem keinen Zugang zum hiesigen Literaturbetrieb.“ Von etablierten Berliner Literaturhäusern würden sie erst gar nicht zu Lesungen eingeladen.

Erzählt von Argentiniern in Berlin: Esther Andradi Foto: Graham Hains

Außerdem hätten „Manuskripte, die nicht auf Deutsch geschrieben werden, keine Chance, gelesen zu werden“, hat Martin Jankowski beobachtet. Jankowski, Moritz Malsch und andere Vertreter der freien Szene setzen sich unter anderem dafür ein, dass „Fremd- und Mehrsprachigkeit bei Ausschreibungen und anderen Förderverfahren“ wie beispielsweise einem Arbeitsstipendium für Autoren berücksichtigt werden. Die viel zu hohen bürokratischen Hürden sollen abgebaut werden. Eine Sprecherin des Kultursenats sieht die Antragsteller selbst in der Pflicht, was Übersetzungen angeht.

Eine spezielle Förderung für Autoren, die in einer anderen Sprache als Deutsch schreiben, gibt es bisher nicht. „Es gibt separate Literaturszenen in Berlin, in denen Autoren und Interessierte nur spanisch, französisch, türkisch oder ungarisch sprechen. Das wollen wir auf dem Festival aufbrechen, um gemeinsame kulturpolitische Interessen anzugehen“, sagt Jankowski.

Hat schon den Prix Stéphane Hessel: Steve Mekoudja Foto: Sali Fayssal

Zwischen hier und dort

Für Esther Andrandi, die in Berlin und Buenos Aires wohnt, ist Übersetzung mehr als nur eine sprachliche Herausforderung. Die Schriftstellerin und Journalistin schreibt nur auf Spanisch, sie hat Kurzgeschichten, Gedichte, Romane und Essays veröffentlicht. In dem Sammelband „Mein Berlin – Streifzüge durch eine Stadt im Wandel“, der Anfang November auch auf Deutsch herauskommt, zeichnet sie die dramatischen Veränderungen in Berlin von 1983 bis 2014 nach. Auch ein Roman von ihr spielt in Berlin, genauer gesagt in Westberlin, und erzählt über eine enttäuschte Argentinierin, die in der Literatur einen Ausweg sucht. Der wird im nächsten Jahr auf Deutsch erscheinen.