„Mein Mann hat nie etwas genommen“

Früher war er Gewichtheber im deutschen Nationalteam. Heute, mit siebzig, stößt er immer noch 75 Kilo. Stets dabei: seine Frau. Ein Gespräch über warme Körper, springende Sehnen, gedopte Senioren

Interview von GESINE KULCKE

21-mal wurde er von der Stadt Stuttgart geehrt, so oft wie kein anderer Sportler. Er nahm als Kampfrichter und Jurymitglied an 48 Bundesligakämpfen, 28 Deutschen Meisterschaften, 15 Europa- und 18 Weltmeisterschaften teil. Seinen Namen möchte er aber nicht nennen.

Die Früchte unter der Sahnehaube sind aus dem eigenen Garten. Seine Frau dreht sich um, deutet auf das Beet hinter der Terrasse: „Wir haben das ganze Jahr Beeren, wir frieren sie ein.“ Sie dreht sich zurück und schenkt Schonkaffee ein, „damit wir heute Nacht auch schlafen können“. Der Mann neben ihr sieht klein, fast zierlich aus in seinem weißen Plastikgartenstuhl.

Sie: Wir haben zwei Häuser gebaut, drei Kinder großgezogen und unser ganzes Leben geschafft. Der Sport war nur nebenher (lacht).

Er (nutzt die Lachpause): Ich habe von 61 bis 67 in der Nationalmannschaft gehoben. Dann habe ich gesundheitliche Probleme bekommen.

taz.mag: In welcher Gewichtsklasse waren Sie?

Er: Bantamgewicht, bis 56 Kilo. Ich hatte 54 Kilo, heute habe ich 62.

Das ist fast nichts im Vergleich zu Ronny Weller.

Er: Ja, der hat sich hochgefuttert. Was hat der gehabt früher, vor dem Autounfall? Um die 105 Kilo.

Warum wollte er schwerer werden?

Er: Die haben ausgerechnet, dass er bessere Chancen hat, wenn er eine Klasse höher kommt. Die Leute interessieren sich ja auch nur für die Schwergewichtler und Superschwergewichtler …

Sie: Von den Leichten bringt man doch nichts … (sie stapelt das Geschirr).

Bei Gewichthebern spricht man eigentlich nur über Doping.

Er: Ja, genau, auf das warten sie. Obwohl es in der Leichtathletik oder im Radfahren viel schlimmer aussieht. Ben Johnson und so, gucken Sie doch den Körperbau an … Aber so ein Weller sieht doch auch nicht besser aus …

Sie: Mein Mann hat nie etwas genommen, bis ins hohe Alter. Er wollte immer beweisen, dass man Sport treiben kann, wenn man gesund isst und nichts nimmt. Deshalb ist er oft bloß Zweiter und Dritter geworden, international.

Wurde Ihnen mal etwas angeboten?

Er: Oh, oft, oft …

Wer bietet denn da was an?

Er: Pff, ich kann Ihnen ein Beispiel sagen. Vor drei Jahren war die Europameisterschaft in Stockholm, und mein stärkster Gegner war ein Schwede, also die Seniorenmeisterschaft …

Sie: Mein Mann ist 70 …

Er: Aber schon ab 35 gehört man zu den Senioren. Bei der EM kam einer von den Superschwergewichtlern aus Schweden und sagte zu mir: Du, ich habe deinem Gegner 600 Pillen verkauft, willst du auch welche? Du hast keine Chance gegen ihn. Ich habe wirklich mit fünf Kilo Abstand verloren. Also, ich möchte sagen, dass die deutschen Gewichtheber am wenigsten nehmen, wenn sie überhaupt was nehmen.

Auch dem Weller würden Sie das nicht unterstellen?

Er: Ich kenne Bernd Dörr, den Arzt der Nationalmannschaft. Das ist eigentlich ein sehr guter Mann. Dass die was nehmen, okay, aber nicht unbedingt etwas, was unter Doping läuft …

Aber was nehmen die denn dann?

Er: Ich kann es Ihnen nicht sagen.

Etwas, was Kraft gibt?

Er: Es gibt so viele Möglichkeiten. Glauben Sie, dass die Sportler, die von Rumänien oder Bulgarien nach Australien gehen, glauben Sie, dass die von Kartoffeln leben? Die haben das schon von Anfang an mitbekommen.

Warum dopen Senioren? Ihre Meisterschaften beachtet kaum jemand.

Er: Ich möchte nicht sagen, dass die so stark dopen, es sind ja keine Welten zwischen mir und denen. Ich bin immerhin sechsmal Europameister und neunmal Weltmeister, als Senior. Es gibt auch Nationen, da haben die Senioren einen hohen Stellenwert. John McNiven, ein langjähriger Gegner von mir, wurde von Königin Elisabeth für seine Leistungen geadelt. Vor vier Jahren schlug ich ihn bei einem Turnier in Belgien. Wir mussten zur Dopingkontrolle. Er war positiv.

Haben Sie gleich nach Ihrer aktiven Zeit in der Nationalmannschaft als Senior weitergemacht?

Er: Nee, nee. Ich weiß gar nicht, wann ich angefangen habe. Ich guck mal (zieht eine lange Liste mit Wettkämpfen und Ehrungen hervor). Also, ich bin 91 das erste Mal Senioreneuropameister geworden und Weltmeister 86. Pass auf, ich bin jetzt 21-mal deutscher Meister, ich müsste also vor … 67 habe ich mit der aktiven Zeit aufgehört, dann war ich noch Trainer …

Sie: Aber wie lange du wieder hebst, will sie wissen. Er hat vier, fünf Jahre pausiert, und dann hat er gesagt, jetzt probiere ich wieder ein bisschen, für meine Gesundheit.

Er: Und dann fragten die Sportkameraden: Wieso machst du nicht mit, dich schlägt doch in Deutschland keiner?

Was war Ihr aktuellster Erfolg?

Er: Im Mai war ich Zweiter bei den Europameisterschaften. Es gibt da Altersklassen und eine Stufe alle fünf Jahre. Ich bin AK8 mit 70 Jahren. 2002 war ich bei der Seniorenolympiade in Melbourne, aber konnte nicht mitmachen.

Sie: Das weiß sie ja nicht, dass du so einen schweren Unfall gehabt hast.

Er: Ich bin trotzdem hingeflogen, weil ich in die Hall of Fame aufgenommen worden bin.

Was war in der aktiven Zeit Ihr größter Erfolg?

Er: Da sind wir ja praktisch fast chancenlos gewesen gegen die DDR.

Gut. Aber Ihr persönlicher Rekord?

Er: Als ich das erste Mal in der Nationalmannschaft war, habe ich 87,5 gedrückt, um die 75 Kilo gerissen und 107,5 gestoßen, mit 54 Kilo Körpergewicht …

Und was war in dieser Zeit der Weltrekord in Ihrer Gewichtsklasse?

Er: Poah …Der Völdi aus Ungarn war mein größter Konkurrent, der war auch Olympiasieger. Der hatte pro Disziplin mindestens zehn Kilo mehr …

Wie trainieren Gewichtheber?

Er: Ich habe zum Beispiel immer Geräte geturnt. Auch als Senior. Und im Weitsprung hatte ich aus ’m Stand zwei Meter achtundsiebzig.

Sie: Mit seiner Größe!

Wie groß sind Sie denn?

Er: Jetzt würde ich noch 1,62 sagen.

Sie: Er war 1,65.

Er: 1,65 steht im Pass, also ich nehme an, 1,63.

Sie sind auch Kampfrichter. Wann wertet ein Kampfrichter einen Versuch als ungültig?

Sie: Ich geh mal auf die Terrasse (setzt sich nach draußen vor das Wohnzimmerfenster und poliert ihre Nägel).

Er: Der Gewichtheber darf zum Beispiel nicht nachdrücken mit dem Arm. Wie bei der Seniorenweltmeisterschaft in Kanada. Der Finne wurde Erster und ich Zweiter. Der Finne hatte beim Stoßen schon die ersten zwei Versuche „ungültig“ bekommen. Dann ist er zu seinem dritten Versuch angetreten, hat ausgestoßen, ist mit dem Arm eingeknickt, noch einmal einen Meter vorgelaufen und hat nachgedrückt. Er hat mit den Ellenbogen nachgeschoben. Aber die Wertung war zwei zu eins gut.

Sie (von der Terrasse): Vielleicht will die Dame ja etwas trinken, einen Sprudel?

Er: Die Halle hat getobt, und ich war meinen Weltmeistertitel los.

Haben Sie als Kampfrichter auch solche Entscheidungen fällen müssen?

Er: Ja, zum Beispiel beim Junioren-Pokalturnier in Bulgarien …

Sie (kommt von der Terrasse ins Wohnzimmer): Ich muss Ihnen sagen, dass er ein sehr beliebter Kampfrichter war, weil er sehr korrekt ist, wie in seinem ganzen Leben (geht wieder zurück auf die Terrasse, poliert ihre Nägel weiter).

Haben Sie nach so vielen Jahren keine Rückenschmerzen?

Er: Ich muss sagen, in dieser Sportart kenne ich eigentlich gar keinen, der mit der Wirbelsäule Probleme hat. Die sind ja vorbereitet, wenn sie heben. Nicht so wie einer, der zum Supermarkt fährt und zwei Kisten Bier holt, hinlangt, von der Körperachse weg, und zack. Ich bin gesund, sagen wir mal, vom Körperbau. Mit Ausnahme von diesem Abriss, den ich hatte. Da bin ich aber selbst schuld. Ich war erkältet und habe zu schnell wieder angefangen. Erst lief das Training sehr gut. Dann wollte ich Schluss machen, dann dachte ich: Ach komm, 75 Kilo ziehst du noch. Ich zieh einmal, zweimal, beim dritten Mal macht es boing, da ist die Sehne oben abgerissen, im linken Arm. Sieben Jahre ist das her.

Stört Sie das heute?

Er: Nur optisch. Neun Wochen später war ich bei einem Turnier in Belgien schon wieder Sieger, mit nur fünf Kilo unter meiner Höchstleistung.

Was ist Ihre Bestleistung als Senior?

Er: Sechzig Kilo Reißen, 75 Kilo Stoßen. Vor zwei Jahren hatte ich einen schweren Fahrradunfall. Hinter einer Kurve kam mir auf meiner Seite ein Kind entgegen. Ich hätte es fast totgefahren. Ich habe das Fahrrad auf die Straße rausgeschmissen und den Randstein erwischt, im Flug. Der Helm war kaputt, quer, und der rechte Arm, Bizepsabriss. Die Rippe und der vierte Brustwirbel waren auch gebrochen. Der Bizeps hängt noch etwas nach unten, da, gucken Sie (schiebt sein Hemd nach oben und zeigt seinen Oberarm), das ist doch nicht mehr schön, oder?

Na ja, doch …

Er (lacht): Wenn ich etwas greife und ziehe, kann es sein, dass die Sehne springt. Dann macht es boing, und du lässt alles fallen, als ob man an einer Saite zupft. Das hatte ich im Herbst 2003 bei der Weltmeisterschaft in Savanna. Ich lag kilogleich mit dem Zweiten, bin raus, wollt abziehen, doch der Kopf sagte: Nein.

Warum?

Er: Ich hatte keine Angst, aber der Kopf hat Nein gesagt, wie eine Vorahnung.

Wie trainieren Sie?

Er: Ja, jeden zweiten Tag, so anderthalb Stunden.

Sie: Er macht sich zuerst warm, wühlt sich durch den Garten oder springt durchs ganze Haus und macht Gymnastik. Der ganze Körper muss warm sein, das ist das A und O.

Gibt es keine bestimmten Übungen für Gewichtheber?

Sie: Gymnastik.

Kniebeugen?

Er: Auch.

Gibt es denn nichts Spezielles?

Er: Ich fang mit der leeren Stange an, wenn ich warm bin, und schaff mich hoch. Oder sagen wir mal, wenn ich den Tag vorher im Training ziemlich schwer Anheben gemacht habe, dann mache ich etwas anderes, nur Drücken obenraus, um das wieder zu entlasten. Dafür hat man einen Kopf, zum Denken.

Was für ein Typ muss man als Gewichtheber sein?

Er: Eine Zeit lang hat es geheißen, die Kleinen hätten Vorteile, mit den langen Armen. Aber das stimmt nicht. Der Hebel ist entscheidend.

Was ist Ihr Vorteil?

Sie: Seine Schnelligkeit, er ist schnell, er ist ein Allroundsportler, er kann Ski fahren, Ski springen, er kann Leichtathletik machen, er kann Tennis spielen. Wenn er die Muskulatur nicht gehabt hätte, wäre da nichts losgewesen. Heute hat er so zarte Händle. Aber damals hat er noch in seinem Beruf geschafft, der ist Bäcker und Konditor.

Er: Ja, früher hat man viel von Hand gemacht, den Teig geknetet.

Braucht man denn zum Gewichtheben kräftige Hände?

Er: Von Nachteil ist es nicht.

Sie waren auch Trainer. Haben Sie auch mal eine Frau trainiert?

Er: Ja, Simone Hahn. Die war eine Zeit lang in Deutschland die Nummer eins.

Mögen Sie es, wenn Frauen Gewicht heben?

Er: Am Anfang war ich skeptisch. Aber ich habe festgestellt, die Frauen sind superbelastbar, und es sieht bei den Frauen oft besser aus, technisch besser. Man sieht auch sehr hübsche Frauen.

Wie sind Sie überhaupt Gewichtheber geworden?

Er: Gegenüber von der Bäckerei, in der ich in Stuttgart gearbeitet habe, war die Allianz. Und ein Kollege trainierte dort, der hat so 110 Kilo gewogen und hat geprotzt: Ha, willst du mal mit? Da bin ich mal mit und traf die Gebrüder Schäfer, der eine war 28 in Los Angeles auf der Olympiade Vierter. Und die sagten, ich könne was. Auf einmal war ich mittendrin. Wurde württembergischer Juniorenmeister, zweiter deutscher Juniorenmeister. Ich war damals 21.

Sie: Nö, nö, du warst 22. Mit 23 haben wir geheiratet.

Er: Stimmt, stimmt … ja, 21. Die Allianz hatte eine Mannschaft, und da ich mit dem Training immer erst um zehn abends fertig war, aber um vier Uhr aufstehen und in die Bäckerei musste, haben die mir eine Stelle angeboten …

Und Sie fahren immer zu den Wettkämpfen Ihres Mannes mit?

Sie: Ja. Früher konnte ich ja nie mit; als mein Mann in der Nationalmannschaft gehoben hat, war ich immer daheim. Ich weiß noch gut, wie mein Mann mal fort ist, als unser Ältester ein Baby war. Da stand ich am Fenster und habe geheult, als er gegangen ist. Aber es gab auch Zeiten, da sind wir alle mit auf eine Deutsche Meisterschaft. Wir haben zu fünft in einem Doppelbett geschlafen, mit unseren Kindern, bloß dass wir alle mitnehmen konnten.

Was gefällt Ihnen am Gewichtheben?

Sie: Ach gefallen … Ob das mir gefällt oder nicht, ich gehe mit und verstehe nach fünfzig Jahren natürlich manches besser als einige Kampfrichter. Aber dass ich begeistert bin, das kann ich nicht sagen.

Er: Wenn Sie da sieben Tage in der Halle sitzen, wird es schon langweilig.

Wo haben Sie sich kennen gelernt?

Sie: Auf der Schwäbischen Alb, mein Mann hat als Bäckerlehrling Brot und Brötchen gebracht.

Sind Sie jünger als Ihr Mann?

Er: Ja, drei Monate.

Sie: Vier, ich bin vier Monate jünger als mein Mann …

GESINE KULCKE, 34, ist freie Journalistin und lebt in Stuttgart