Dolmetscherin für Leichte Sprache: Humor funktioniert ganz anders

Kein Genitiv, kein Passiv und möglichst kurz: Anne Leichtfuß ist Simultan-Dolmetscherin für Leichte Sprache – die einzige in Deutschland.

Anne Leichtfuß in der Ausstellung „Touchdown“

Anne Leichtfuß in der Ausstellung „Touchdown“ in Bonn Foto: Martin Magunia

BONN/BERLIN taz | Leicht dahingesagt ist bei Anne Leichtfuß gar nichts. Auch wenn sie sich kurzfasst, klar ausdrückt, einfach spricht. An einem Montagmorgen sitzt sie in einer Sprechkabine im Foyer des Paul-Löbe-Hauses in Berlin, wo die Bundestagsabgeordneten ihre Büros haben. Die Glaskonstruktion gibt den Blick auf die Spree frei, das Licht draußen ist milchig, und nebenan im Reichstag wird gleich die Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales zum Bundesteilhabegesetz beginnen.

Doch weil der Sitzungssaal nicht barrierefrei ist, müssen die rund hundert Zuhörer und Aktivisten der Anhörung per Videoübertragung im Paul-Löbe-Haus folgen. Zwei Gebärdendolmetscherinnen sitzen frontal zum Publikum, während sich zwei Herren vom „Sprachendienst“ des Bundestags Anne Leichtfuß nähern. „Für uns ist das Premiere“, sagen sie. „Wie viele Leute machen das denn?“ Anne Leichtfuß lächelt: „Ich bin die Einzige.“

Leichtfuß, 38 Jahre, rotblond, mit großer Brille, ist Simultandolmetscherin für Leichte Sprache. Thomas Szymanowicz, ein Mittdreißiger, der das Downsyndrom hat, sitzt mit Kopfhörer im Publikum. Er wird dank ihrer klaren Sprache der Debatte folgen. Seitdem die Bundesregierung 2013 die UN-Behindertenrechtskonvention anerkannt hat, üben sich Institutionen in größerer Verständlichkeit. Behörden bieten Erläuterungen von Gesetzestexten, und es gibt Agenturen, die sich auf Leichte Sprache spezialisiert haben. Doch niemand macht das simultan, außer Anne Leichtfuß.

„Alle sollten alles verstehen“

Es hat sich so ergeben. Zufall ist es trotzdem nicht. Nach einer Buchhändlerlehre studierte Leichtfuß in Köln „Onlineredakteur“ und ging der Frage nach, wie Websites aufgebaut sein müssen, damit Menschen mit Lernschwierigkeiten sie verstehen. Später absolvierte sie ein Praktikum bei Ohrenkuss, einer Zeitschrift von Menschen für Menschen mit Downsyndrom – und blieb als Redakteurin. Für das „No Limits“-Festival in Berlin mit Behindertentheatern aus aller Welt hatten die Veranstalter zwar Englisch- und Französischdolmetscher gebucht, doch es gab niemanden für Leichte Sprache. „Aber alle sollten alles verstehen“, erzählt Leichtfuß. Die Veranstalter fragten, ob sie sich das zutraue. Sie übte mit Fernsehnachrichten und sagte Ja. „Es hat unglaublich Spaß gemacht, weil ich sofort Feedback bekam.“

Da war 2013, seither bekam Leichtfuß immer mehr Anfragen. Simultan dolmetschen hat sie sich selbst beigebracht. Für das Verschriftlichen von Leichter Sprache gibt es seit 2009 verbindliche Regeln. Prinzipiell gilt: Kurze Sätze, kein Passiv, kein Genitiv, kein Konjunktiv. Man kann außerdem viele Absätze machen, optisch etwas hervorheben. Und es gibt Testleser, oft zwei. Beim Simultandolmetschen fällt das weg. „Ich muss in den Dialog gehen“, sagt Leichtfuß, „in den Pausen nachfragen, ob das Tempo stimmt.“

Dafür bleibt im Paul-Löbe-Haus keine Zeit. Fragen der Parlamentarier und Statements von Experten und Selbsthilfeorganisationen wechseln sich ab, zweieinhalb Stunden lang. Vor Leichtfuß liegt ein Glossar, um zentrale Punkte erläutern zu können: „Eingliederungshilfe ist Geld, das für Menschen mit Behinderung bezahlt wird.“ „Aufhebung der Vermögensanrechnung“ übersetzt sie mit „Wir müssen sparen können“. Die „Vergütungsspirale nach unten“ bedeutet: „Es wird nicht genug gezahlt.“ Es sei eine Herausforderung, sagt sie hinterher, „langsam zu sprechen, wenn die Redner gegen Ende ihrer Redezeit immer schneller werden.“

Simultan übersetzen heißt für Leichtfuß: schnell aufnehmen, langsam wiedergeben. Pausen machen. Sätze strukturieren. Floskeln weglassen – „weswegen die Redezeit meist doch auf dasselbe hinausläuft“. Prinzipiell, glaubt sie, sei alles in Leichte Sprache übersetzbar. „Mein größter Ehrgeiz ist: Alle Infos müssen rein. Ich versuche nie, den Inhalt zu verändern, nur Struktur und Form.“ Das Gesagte bekommt eine andere Dynamik, eine Unmittelbarkeit, die manchmal brutal wirkt, meint Leichtfuß. „Man muss die Dinge klarer benennen.“ Sprachliche Ausflüchte, Verharmlosungen oder Euphemismen sind nicht möglich.

Es herrscht Ausnahmezustand

Die 38-Jährige sitzt im Bonner Redaktionsbüro, wo seit anderthalb Jahren auch das Forschungsprojekt „Touchdown21“ zu Hause ist, das sich mit dem Downsyndrom beschäftigt und aus Ohrenkuss entstanden ist. Leichtfuß gehört zum Team. Alles an ihr ist an diesem Herbsttag in Goldgelb getaucht: die langen Haare, die Brille, die orange Strumpfhose, das gelbe Kleid, die Kette, bis hin zum winzigen Nasenstecker. Durch die Fenster sieht man auf eine Kreuzung und das noch regennasse Pflaster. Die Häuser sind zweigeschossig, manche Giebel tragen rheinischen Schiefer. Bonn-Beul. Von hier ist es nicht weit zur Bundeskunsthalle, wo demnächst die Ausstellung „Touchdown“ eröffnet wird. Es herrscht Ausnahmezustand.

Leichtfuß ist verabredet: mit Anna-Lisa Plettenberg und Marley Thelen, 22 und 24 Jahre alt. Sie sind Ohrenkuss-Autorinnen und an der Ausstellung beteiligt, die mit künstlerischen, wissenschaftlichen, historischen, biografischen Objekten und Dokumenten die Geschichte des Downsyndroms erkundet. Sie haben persönliche Gegenstände, Plettenberg ihre liebste Helene-Fischer-CD, und Texte zur Ausstellung beigesteuert, sie werden im Tandem mit professionellen Museumsführern durch die Ausstellung führen. Heute treffen sie ihre Tandempartnerin und klären die Stationen der Ausstellung, an denen sie etwas erzählen. Thelen bleibt vor den Porträts von Menschen mit Downsyndrom stehen. „Wo bin ich?“, fragt sie. „Da“, sagt Anna-Lisa. Thelen bleibt versunken vor der Bilderwand sitzen.

Anna-Lisa Plettenberg steuert die Abteilung über den britischen Arzt John Langdon-Down an, der als Erster im 19. Jahrhundert begonnen hatte, Menschen mit Downsyndrom zu beschreiben, zu fotografieren, sich um sie zu kümmern. Über ihn weiß sie Bescheid, sie identifiziert sich mit seiner Arbeit. Die Kapitel „Spurensuche in der Vergangenheit“ und „Auslöschung“ hingegen will sie ihrer Tandempartnerin überlassen. Staunend stehen alle vor einem 2.500 Jahre alten Skelett, das laut DNA-Analyse zu einer Frau mit Downsyndrom gehören könnte.

Bedürfnis nach Übersichtlichkeit?

„Menschen mit Downsyndrom können sich Zeit schlecht vorstellen“, sagt Anne Leichtfuß später in der Cafeteria. Anna-Lisa Plettenberg, Marley Thelen und die Museumsführerin Marie Christine Gerwens-Voß besprechen, wie viele Jahreszahlen man nennen sollte. Möglichst wenige, sagt Gerwens-Voß aus Erfahrung. Anne Leichtfuß moderiert. „Gibt es noch offene Fragen? Wie fühlt ihr euch?“, fragt sie. Plettenberg ist „etwas aufgeregt“. Thelen hat der Kuchen geschmeckt. Gerwens-Voß freut sich auf die neue Erfahrung. Anne Leichtfuß sagt: „Wir sind das erste Mal früher fertig.“

Seit mehreren Jahren arbeitet Leichtfuß mit Menschen mit Downsyndrom. Ihr Ton ist höflich, sie agiert vertraut, aber nicht vertraulich. Kommunikation findet auf vielen Ebenen statt. Leichtfuß achtet auf ihr Gegenüber – und auf Distanz. Wenn sie als Übersetzerin gefragt wird, wie von Michael Szymanowicz in Berlin, ist dies eine Dienstleistung. Szymanowicz kommt hinterher zu ihr und reicht ihr dankend die Hand. Er hat gut folgen können, sagt er.

„Zwischentöne gehen nicht.“ Und Ironie? Sie winkt ab.„Leider nein“

Herrscht in dieser immer komplexer werdenden Welt ein Bedürfnis nach Übersichtlichkeit? Gar ein Infantilisierungsdrang, wie Sprachpuristen oder Kritiker sagen würden, die sich darüber mokieren, dass demnächst alles in Einfache Sprache übersetzt werden könnte. „Nein“, sagt Anne Leichtfuß mit Nachdruck, „es gibt noch viel zu wenig in dieser Richtung.“ Es geht um Teilhabe. Nicht nur Menschen mit Downsyndrom nehmen ihre Dienste in Anspruch, auch Konferenzen, Festivals oder Menschen, die schlicht noch nicht richtig Deutsch können. Seit dem Flüchtlingszustrom ist die Zahl der Anfragen „exorbitant gestiegen“. Die Uni Hildesheim hat eine Forschungsstelle für Leichte Sprache eingerichtet.

„Touchdown“ – die Ausstellung

Die Leichte Sprache ersetzt Fremdwörter und Fachbegriffe, ist äußerst reduziert. Ein wissenschaftliches Projekt wie „Touchdown21“ kommt nicht ohne Fachbegriffe aus, erklärt Leichtfuß, hier benutzen sie die Klare Sprache. Für Menschen mit geringen Deutschkenntnissen gibt es außerdem noch die Einfache Sprache, die wiederum anspruchsvoller ist als Leichte Sprache. „Ich muss sehr tief in die Themen einsteigen“, sagt Leichtfuß, „damit es verständlich ist, aber trotzdem in den Nuancen richtig und stimmig.“ Doch gerade das, was Sprache auszeichnet, die sprachliche Nuancierung, funktioniert mit Leichter Sprache nicht. „Zwischentöne gehen nicht“, sagt Leichtfuß bedauernd. Und Ironie? Sie winkt ab. „Leider nein.“

Ironie, nein. Spaß, ja. Humor funktioniere bei Menschen mit Downsyndrom ganz anders, erzählt Leichtfuß. Über Situationskomik. „Die lachen manchmal, und ich weiß nicht, warum.“ Für die Kommunikation mit der Außenwelt sind sie auf die Leichte Sprache angewiesen, sprechen aber selbst auf ihre Weise. Leichtfuß’ Ohrenkuss-Kollegen haben großen Spaß am Schreiben. „Ihre Sprache ist schön, poetisch und minimalistisch. Ich würde das nie so hinkriegen.“ Leichtfuß bedauert, dass es so wenige vergnügliche Texte in Leichter Sprache gibt – sie hat deshalb einen Blog, der in Leichter Sprache über das Leben von Stars informiert. Anna-Lisa Plettenberg mit ihrem Faible für Helene Fischer gehört zu ihren treuesten Leserinnen.

Und ist Shakespeare in Leichter Sprache sinnvoll? „Das ist dann immer noch schön“, entgegnet Leichtfuß. Kann man Sprache so zum Funkeln bringen? „Ja, klar“, sagt Anne Leichtfuß. „Durch Variationen.“ Wenn es eine kann, dann sie.

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