Werke von und über Marcel Proust: Geld für den Puff

Von allem was: Die neuesten Publikationen beschäftigen sich mit den Heldinnen seiner Bücher, Schachtelsätzen par excellence und Besuchen im Bordell.

An Mann steht hinter einem DJ-Pult, dahinter eine verschwommen blaue Projektion, die Bäume und einen Menschen zeigt

Aufführung von „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ bei der Ruhrtriennale 2015 Foto: imago/Bettina Strenske

Proust hat immer Saison. Der Roman „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ und sein mythenumrankter Autor sind ein unerschöpflicher Quell, nicht zuletzt, was das Publikationspotenzial angeht. Auch abseits von Jubiläen ebben die Neuerscheinungen nicht ab. Der diesjährige Literaturherbst aber ist selbst für routinierte Proustianer besonders.

Da gibt es reizende kleine Bücher wie etwa „Marcel Proust und die Frauen“, in dem die Romanistin Ursula Voß in konzentrierten Porträts weiblichen Protagonistinnen aus dem Leben des Autors nachspürt – von der Haushälterin Céleste Albaret bis zur großen Schauspielerin Sarah Bernhardt.

Eher etwas für Spezialisten ist Rainer Warnings Titel „Marcel Proust“. Mit Foucault im Hinterkopf klopft der Literaturwissenschaftler das Werk auf sogenannte Heterotopien ab, also zwischen Realität und Imagination lokalisierte Orte, die als Gegenmodell zu gesellschaftlichen „Platzierungen“ funktionieren. Das sind etwa Bordelle, wie sie nicht nur in der „Recherche“ immer wieder eine große Rolle spielen, sondern auch in Prousts Briefen. In einem berühmten vom 17. Mai 1888 bittet der klamme Teenager seinen Großvater um Geld für einen Puffbesuch: „Ich hatte ein so starkes Bedürfnis, eine Frau aufzusuchen, um mit meiner schlechten Gewohnheit des Masturbierens aufzuhören …“ Die bislang größte auf Deutsch vorliegende Briefauswahl deckt nun in zwei schmucken Bänden auf 1.500 Seiten den Zeitraum von 1879–1922 ab.

Nach einem über zehn Jahre andauernden Arbeitsprozess hat Bernd-Jürgen Fischer nun die vollständige Neuübersetzung der „Recherche“ abgeschlossen. Ihr letzter Band, „Die wiedergefundene Zeit“, ist endlich erschienen – rund ein halbes Jahrhundert nach der ersten Gesamtübertragung Eva Rechel-Mertens’, die Generationen deutscher Muttersprachler den Zugang zu dem sieben Bände umfassenden Romankosmos ermöglichte. Wer die „Recherche“ über Rechel-Mertens kennengelernt und sich später auch die revidierte Ausgabe von Luzius Keller vorgenommen hat – die durch eine stark abweichende Neuedition der französischen Originalausgabe notwendig geworden war, welche nun auch Fischer als Vorlage diente –, liest die Neuübersetzung natürlich nicht unbefangen. Dass Proust tatsächlich flüssiger lesbar erscheint, mag auch daran liegen, dass vieles beim Wiederlesen unwillkürlich vertraut ist. Da die „Recherche“ um das Erinnern vertrauter Dinge und Eindrücke kreist – insbesondere auch Leseeindrücke –, ist das ein schöner Nebeneffekt.

Eine Art Jubiläum

Näheres ergibt der direkte Vergleich, der hier nur angerissen werden kann. Erster-Satz-Fetischisten können schon einmal aufatmen. Der legendäre Beginn des ersten Bandes – „Lange Zeit bin ich früh schlafen gegangen“ – bleibt unberührt. (Wobei aus Rechel-Mertens’ „In Swanns Welt“, der schönen, aber unpräzisen Übersetzung des schwierigen Titels „Du côté de chez Swann“, bei Luzius Keller „Unterwegs zu Swann“ wurde und bei Fischer, treffender, „Auf dem Weg zu Swann“.) Nur ein kleines Beispiel: „Hatte ich mich nicht deshalb immer so sehr für die Träume interessiert, die man während des Schlafes hat …“, lautet der Anfang eines langen, prousttypischen Schachtelsatzes aus dem Band „Die wiedergefundene Zeit“, in dem der Erzähler Marcel, bevor er Jahre nach dem Ersten Weltkrieg ganz nach Paris zurückkehrt, einen Sanatoriumsaufenthalt für eine Stippvisite unterbricht – und zwar im Jahr 1916, wir haben es also doch wieder mit einer Art Jubiläum zu tun.

Marcel Proust: „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit. Die wiedergefundene Zeit“. Dt. v. Bernd-Jürgen Fischer. ­Reclam, Stuttgart 2016, 610 S., 34,95 Euro

Marcel Proust: „Briefe 1879–1922“. Dt. v. J. Ritte, A. Russer, B. Schwibs. Suhrkamp, Berlin 2016, 1.479 S., 78 Euro

Ursula Voß: „Marcel Proust und die Frauen“. Ebersbach & Simon, Berlin 2016, 144 S., 16,80 Euro

Rainer Warning: „Marcel Proust“. Wilhelm Fink, Paderborn 2016, 182 S., 26,90 Euro

Bei Proust steht: „Si je m’étais toujours tant intéressé aux rêves que l’on a pendant le sommeil.“ Fischer nimmt dem Anfang immerhin schon mal einen Nebensatz: „Wenn ich mich immer so sehr für Träume während des Schlafes interessiert hatte …“. Näher am Original ist er damit allerdings nicht. Deutlicher werden die Unterschiede im überzeugend modernisierten Vokabular. So wird beispielsweise aus dem antiquiert klingenden „Männerantlitz“ (Rechel-Mertens/Keller) ein „maskulines Gesicht“ (Fischer), das viel besser mit Prousts „visage masculin“ übereinstimmt. Allerdings gibt es auch zahlreiche fragwürdige Entscheidungen, bei denen die alte Übersetzung überzeugender wirkt, und Beispielsätze, die die Neuübersetzung nicht unbedingt notwendig erscheinen lassen.

Insgesamt aber liest sich Fischers Übersetzung nicht nur sehr gut, sie liefert auch einen guten Grund, Proust wiederzulesen (oder auch erstmalig zu lesen). Die Briefe – unter anderem an die Mutter, den Vater, an André Gide, Jean Cocteau, den Verleger Gaston Gallimard und viele andere Freunde und Verwandte – sind neben dem ausführlichen Anmerkungsapparat Fischers der ideale Lektürebegleiter, da sie nicht nur die Entstehung eines der größten Werke der Literaturgeschichte dokumentieren, sondern auch eigene Interpretationsansätze enthalten.

Samuel Beckett übrigens nannte den Proust der Briefe einmal ein „geschwätziges altes Weib“. Das ist alles andere als richtig – und um zu diesem Urteil zu gelangen, sollte man die Briefe unbedingt lesen.

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